Die Glut des Zorns (Billy Bob Holland) (German Edition)
schon sehen.«
Als Amos Rackley weg war, setzte sie sich ans Ufer des Bachs, zog die Knie an und schlang die Hände um ihre Knöchel. Der Himmel war jetzt dunkel, und sie hörte, wie Tiere im Wald umherzogen, Hirsche wahrscheinlich, vielleicht auch Schwarzbären und Pumas, möglicherweise sogar ein Elch, und sie hoffte sogar, dass sie einen sah und keine Angst davor hatte, obwohl es hieß, dass Elche auf Menschen losgingen. Sie wollte glauben, dass die Tiere die Geister ihrer Ahnen darstellten, Menschen, die in Einklang mit der Erde und dem Himmel gelebt hatten, dem Wind und dem Wasser in denStrömen, den geflügelten und den vierbeinigen Lebewesen, dem Lachs, der aus dem fernen Meer die Flüsse hinaufzog, um seinen Laich dort abzulegen, wo er geboren war. Dass die Tiere, die sie in der Dunkelheit hörte, Zeichen waren, die von der Kraft, der Entschlossenheit und dem Mut kündeten, die ihr tagtäglich entglitten, weshalb sie sich, wenn sie schlief, immer wie im Gefängnis vorkam, in einem Kerker voller bizarrer Schemen, die sie nicht bannen konnte.
Sie stand auf, watete in den Bach und spürte, wie ihr das kalte Wasser über die Knöchel stieg. Sie ging zum anderen Ufer, lief über kleine Steine, die ihr in die Fußsohlen stachen, und trat unter die Bäume. Wieder hörte sie ein Rascheln im Unterholz und ging tiefer in den Wald, bis sie auf eine alte Rodung stieß, auf der lauter Pilze inmitten der faulig grauen Baumstümpfe sprossen. Ein Wapitihirsch reckte sein Haupt aus dem Gras, sodass sich das Mondlicht auf seinem Geweih brach.
Einen Moment lang meinte sie, sie hätte das Totem gefunden, das von der Kraft kündete, die ihr Volk an sie weitergeben konnte. Stattdessen starrte sie wie benommen auf das Hirschgeweih, sah das harte, geriffelte Hörn, die geschwungenen Spitzen und musste unwillkürlich an Wyatt Dixon denken. Und sie wusste, dass sie in dieser Nacht nicht schlafen würde.
24. KAPITEL
Tags darauf saß ich im Morgengrauen neben Lucas’ Feuerstelle am Flussufer und hörte mir Sue Lynns Geschichte an. Der Wind blies die Asche auf, die sich wie Schneeflocken auf SueLynns Schultern und den Haaren ablagerte. Sie knetete ihre Hände, während sie sprach, und schaute weder zu Lucas noch zu mir.
»Haben Sie vor, ein Mikro zu tragen?«, fragte ich.
»Nein, nicht in Carls Umgebung. Er macht mir Angst. Mehr noch als Wyatt. Er ist viel schlauer als Wyatt«, antwortete sie.
»Ich glaube, es wird höchste Zeit, dass Sie von diesen Typen loskommen, Sue Lynn«, sagte ich.
»Warum will Mr. Rackley über diese Waffen Bescheid wissen?«, sagte sie.
»Wenn Sie in Hinkels Haus Schnellfeuerwaffen sehen, kann sich Rackley einen Durchsuchungsbefehl besorgen und den Laden ausheben. Haben Sie dort kein schweres Gerät gesehen?«
»Im Keller ist ein Ständer mit Gewehren. Die Biker nennen sie ›Pogo-Sticks‹«, sagte sie.
»Dann sind es entweder M-16 oder AR-15. Die AR-15 sind legal. Die andern nicht. Sie wissen nicht genau, was es für welche sind?«, sagte ich.
»Meiner Meinung nach ist dieses Waffentheater nur was für Knallköpfe«, sagte sie. Sie stand von dem Fels auf, auf dem sie saß, und schaute auf den Dunst, der die Bäume verhüllte, und den Fluss, dessen Wasser wie Satin über die Felsblöcke an der tiefsten Stelle strömte.
»Lucas, ich brauchte einen Schuss Milch in meinen Kaffee, sonst schmeckt er mir nicht. Macht es dir was aus?«, sagte ich.
»Nein, Billy Bob, es macht mir nichts aus, nachdem du mir diesen subtilen Wink mit dem Zaunpfahl gegeben hast«, erwiderte er, stand auf, ging die Böschung hoch und über die Veranda in Docs Haus.
»Ihr kleiner Bruder wurde entführt und ermordet, nicht wahr?«, sagte ich.
Sie stand über mir, hatte einen Fuß auf einen Stein gestellt und die Daumen in die Hosentaschen geschoben. Ich sah eine Ader an ihrem Hals pochen.
»Wer hat Ihnen das erzählt?«, sagte sie.
»Lamar Ellison hatte sich in der Nacht, in der er starb, in einer Kneipe oben am Blackfoot mit Bier und Gras die Kante gegeben. Er hatte eine Art Blackout und sagte irgendetwas, das Sie sehr wütend gemacht hat.«
»Daran kann ich mich nicht mehr erinnern«, sagte sie.
»Doc muss sich in zwei Wochen vor Gericht verantworten. Meinen Sie, er sollte vor Gericht gestellt werden, Sue Lynn?«
»Ich bin hierher gekommen, weil Lucas mich darum gebeten hat. Hören Sie auf, mich auszufragen. Sie sind kein Polizist.«
Das Wasser stieg ihr in die Augen. Sie trat vom Feuer zurück und tat so, als hätte
Weitere Kostenlose Bücher