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Die Glut

Die Glut

Titel: Die Glut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sándor Márai
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hatte genug Zeit, über dieses Gefühl nachzudenken. Du hast von mir nie Geld angenommen, auch keine Geschenke, du hast nicht zugelassen, dass aus dieser Freundschaft eine echte Geschwisterlichkeit entstehe, und wäre ich damals nicht so jung gewesen, hätte ich wissen müssen, dass das ein verdächtiges, gefährliches Zeichen ist. Wer keinen Teil annimmt, will wahrscheinlich alles, das Ganze. Du hast mich schon als Kind gehasst, vom ersten Augenblick an, da wir uns kennenlernten, in jenem seltsamen Haus, wo die besten Exemplare unserer Welt dressiert und veredelt wurden, du hast mich gehasst, weil in mir etwas war, das dir fehlte. Was? Welche Fähigkeit oder Eigenschaft? ... Du warst immer der Gebildetere, du warst das Meisterwerk wider Willen, der Fleißige und Brave, du warst der Begabte, denn du hattest ein Instrument, im wahren Sinn des Wortes, du hattest ein Geheimnis - die Musik. Du warst der Verwandte Chopins, du zogst dich stolz zurück. Im Grunde deiner Seele aber steckte ein Krampf - die Sehnsucht, anders zu sein, als du bist. Das ist der größte Schicksalsschlag, der einen Menschen treffen kann. Die Sehnsucht, anders zu sein, als man ist: eine schmerzlichere Sehnsucht könnte im Herzen nicht brennen. Denn das Leben lässt sich nur ertragen, wenn man sich mit dem abfindet, was man für sich selbst und für die Welt bedeutet. Man muß sich damit abfinden, dass man ist, wie man ist, und wissen, dass man für dieses weise Verhalten vom Leben kein Lob bekommt, dass einem keine Orden an die Brust gesteckt werden, wenn man weiß und erträgt, dass man eitel ist oder egoistisch oder glatzköpfig und schmerbäuchig - nein, das muß man wissen, dass man kein Lob, keine Belohnung erhält. Man muß es ertragen, das ist das ganze Geheimnis. Man muß seinen Charakter, sein Naturell ertragen, da weder Erfahrung noch Einsicht an den Mängeln, am Eigennutz und an der Habgier etwas ändern. Wir müssen ertragen, dass unsere Sehnsüchte in der Welt kein vollkommenes Echo haben. Wir müssen ertragen, dass die, die wir lieben, uns nicht lieben, oder nicht so, wie wir es hofften. Man muß Verrat und Treulosigkeit ertragen, und man muß, schwerste aller Aufgaben, es auch ertragen, wenn einem jemand charakterlich oder intelligenzmäßig überlegen ist. So viel habe ich in fünfundsiebzig Jahren gelernt, hier, mitten im Wald. Du aber hast das alles nicht ertragen können«, sagt er leise und in abschließendem Ton. Dann verstummt er, und sein Blick verliert sich im Halbdunkel.
    »In der Kindheit war dir das alles natürlich nicht bewusst«, sagt er dann, als versuche er, den anderen zu entschuldigen. »Das war eine schöne, eine zauberhafte Zeit. Im Alter vergrößert die Erinnerung jede Einzelheit und präsentiert sie deutlich umrissen. Wir waren Kinder, und wir waren Freunde: Das ist ein großes Geschenk, danken wir dem Schicksal dafür. Dann aber hat sich dein Charakter herausgebildet, und du hast es nicht ertragen, dass dir etwas fehlte, das ich dank Abstammung, dank Erziehung besaß, oder vielleicht war es auch etwas Gottgegebenes ... Was war es? War es eine Begabung? Es bestand einfach nur darin, dass die Welt gleichgültig, zuweilen auch feindselig auf dich blickte, während mir die Menschen ihr Lächeln und ihr Vertrauen schenkten. Du hast dieses Vertrauen und diese Freundschaft, die mir von der Welt entgegenstrahlte, verachtet, aber gleichzeitig warst du auch tödlich neidisch darauf. Du hast dir wohl vorgestellt - natürlich nicht in Worten, sondern mit einem undeutlichen Gefühl -, dass jemand, der von der Welt begünstigt und geschätzt wird, etwas Hurenhaftes an sich hat. Es gibt Menschen, die von allen geliebt werden, für die jedermann ein verzeihendes, kosendes Lächeln übrig hat, und an solchen Menschen ist in der Tat etwas allzu Gefälliges, Hurenhaftes. Du siehst, ich fürchte die Wörter nicht mehr«, sagt er und lächelt, wie um den anderen zu gleicher Furchtlosigkeit zu ermuntern. »In der Einsamkeit lernt man alles kennen, und man fürchtet sich vor gar nichts mehr. Die Menschen, an deren Stirn das himmlische Zeichen der Göttergünstlinge strahlt, fühlen sich tatsächlich als Erwählte, und in der Art, wie sie vor die Welt treten, ist eine eitle Sicherheit. Wenn du mich aber so gesehen hast, dann hast du dich getäuscht. Dann hätte mich dein Neid so entstellt. Ich will mich nicht verteidigen, denn ich suche die Wahrheit, und wer das tut, muß die Suche bei sich selbst beginnen. Was du in mir und um

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