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Die Glut

Die Glut

Titel: Die Glut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sándor Márai
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Das hat er nie getan, wahrscheinlich nicht einmal in der Urzeit, als das Jagen eine der wenigen Möglichkeiten der Nahrungsbeschaffung war. Immer gab es um die Jagd ein Ritual, ein religiöses Stammesritual. Der gute Jäger war immer der Erste seines Stammes und also auch ein bisschen der Priester. Im Lauf der Zeit ist das natürlich alles verblasst. Aber noch in dieser verblassten Form sind die Rituale vorhanden. Ich habe in meinem Leben vielleicht nichts so sehr geliebt wie die Morgenfrühe auf der Jagd. Man steht noch bei Dunkelheit auf, zieht sich anders an als im Alltag, legt zweckmäßige, ausgewählte Kleidung an, isst im lampenbeleuchteten Zimmer ein anderes Frühstück als sonst, stärkt sich das Herz mit Schnaps, kaut kaltes Fleisch dazu. Ich liebte den Geruch der Jägerkleidung, der Filz hatte sich mit dem Geruch des Walds, des Laubs, der Luft und des verspritzten Bluts vollgesogen, denn man hatte sich die erlegten Vögel an den Gurt gehängt, und ihr Blut beschmutzte die Jacke. Aber ist Blut etwas Schmutziges? ... Ich glaube nicht. Es ist der edelste Stoff der Welt, und zu jeder Zeit hat der Mensch, der Gott etwas unaussprechlich Großes sagen wollte, Blut geopfert. Und der ölige Metallgeruch des Gewehrs. Und der rohe, ranzige Geruch des Leders. Das alles habe ich geliebt«, sagt er ein wenig greisenhaft und fast verschämt, als gebe er eine Schwäche zu. »Und dann tritt man aus dem Haus, die Jagdkameraden warten schon, die Sonne ist noch nicht aufgegangen, der Jäger hält die Hunde an der Leine und erstattet leise Meldung über die Geschehnisse der Nacht. Jetzt setzt man sich in den Wagen und fährt los. Die Gegend beginnt zu erwachen, der Wald streckt sich, reibt sich mit einer schläfrigen Bewegung die Augen. Alles riecht so sauber wie in einer anderen Heimat, die es am Anfang des Lebens und der Dinge gab. Dann bleibt der Wagen am Waldrand stehen, du steigst aus, dein Hund und dein Jäger gehen still neben dir her. Unter deinen Stiefelsohlen macht das feuchte Laub kaum ein Geräusch. Die Lichtungen sind voller Fährten. Jetzt erwacht alles um einen herum zum Leben: Das Licht lässt die Decke über dem Wald aufgehen, als begänne der geheime Mechanismus auf dem Schnürboden des rätselhaften Welttheaters zu funktionieren. Jetzt beginnen die Vögel zu singen, ein Reh wechselt über den Waldweg, weit vorn, auf dreihundert Schritt Entfernung. Du ziehst dich ins Unterholz zurück, beobachtest. Du hast den Hund bei dir, heute gehst du nicht auf Rehe ... Das Tier bleibt stehen, sieht dich nicht, wittert dich nicht, weil du den Wind gegen dich hast, und doch weiß es, dass sein Schicksal in der Nähe ist; es hebt den Kopf, wendet den zarten Hals, sein Körper spannt sich, es steht für einige Augenblicke so reglos gebannt, wie man nur vor seinem Schicksal zu stutzen vermag, in völliger Hilflosigkeit, weil man weiß, dass das Schicksal kein zufälliges Missgeschick ist, sondern die notwendige Folge unberechenbarer und schwer verständlicher Zusammenhänge. Und jetzt bereust du schon, dass du keine Büchse bei dir hast. Auch du, dort im Unterholz, stehst gebannt, auch du bist an den Augenblick gefesselt, du, der Jäger. Und du spürst in den Händen das Zittern, das so alt ist wie der Mensch, spürst die Bereitschaft zum Töten, diese verbotene Lust, diese stärkste aller Leidenschaften, diesen Trieb, der weder gut noch schlecht ist, sondern einer der geheimen Triebe eines jeden Lebens: stärker, geschickter zu sein als der andere, die Überlegenheit zu wahren, keinen Fehler zu machen. Das fühlt der sprungbereite Leopard, das fühlt die Schlange, wenn sie sich zwischen den Steinen aufrichtet, und der Falke, der aus großer Höhe herabstößt, und das fühlt der Mensch, der sein Opfer ins Auge fasst. Und auch du hast es gefühlt, vielleicht zum ersten Mal in deinem Leben, als du dein Gewehr angelegt und auf mich gezielt hast, um mich zu töten.«
    Er beugt sich über das Tischchen, das zwischen ihnen vor dem Kamin steht. Er schenkt sich süßen Likör in ein kleines Glas ein und probiert das purpurrote, sirupartige Getränk mit der Zungenspitze. Dann stellt er das Glas befriedigt auf den Tisch zurück.

14

    »Es war noch dunkel«, sagt er, als der andere nichts erwidert, sich auch nicht wehrt, mit keiner Handbewegung, keinem Blick ein Zeichen gibt, dass er die Beschuldigung gehört hat. »Es war der Augenblick, da sich die Nacht vom Tag, die Unterwelt von der Oberwelt löst. Und vielleicht lösen sich auch

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