Die Glut
noch andere Dinge voneinander. Es ist die letzte Sekunde, da sich die Tiefen und Höhen, das Dunkle und das Helle der Welt und der Menschen noch berühren, da die Schlafenden aus ihren quälenden Träumen aufschrecken, da die Kranken zu stöhnen beginnen, weil sie spüren, dass sich die nächtliche Hölle ihrem Ende nähert und jetzt das übersichtlichere Leiden folgt; das Licht und die Ordnung des Tages breiten alles aus, was im dunklen Durcheinander der Nacht krampfhaftes Begehren, heimliche Sehnsucht, zuckende Regung war. Die Jäger und das Wild lieben diesen Augenblick. Es ist nicht mehr dunkel, es ist noch nicht hell. Der Wald riecht so roh und wild, als käme jedes organische Wesen, Pflanze, Tier und Mensch, im großen Schlafzimmer der Welt allmählich zu sich und atmete seine Geheimnisse und bösen Gedanken aus. Wind kommt in diesem Augenblick auf, vorsichtig wie der Seufzer des Schlafenden, dem die Welt, in die er geboren wurde, wieder einfällt. Der Geruch des feuchten Laubs, des Farns, des zerfallenden Holzes, der verrottenden Tannenzapfen, des weichen, vom Tau glitschigen Teppichs aus abgefallenen Blättern und Nadeln schlägt dir vom Erdboden entgegen, als lägen da zwei Liebende in schweißgebadeter Umarmung. Ein magischer Augenblick ist das, die Ahnen, die Heiden haben ihn in der Waldestiefe gefeiert, ehrfürchtig, mit ausgebreiteten Armen, das Gesicht nach Osten gewandt: der an die Materie gefesselte Mensch in der ewig wiederholten, bezauberten Erwartung des Lichts und also der Einsicht und der Vernunft. Um diese Zeit bricht das Wild zur Quelle auf. Es ist der Augenblick, da die Nacht noch nicht ganz zu Ende ist, im Wald ist noch etwas im Gang, die große Jagd, die Bereitschaft, wie sie das Leben der Nachttiere prägt, hat noch nicht vollständig nachgelassen, noch liegt die Wildkatze auf der Lauer, der Bär reißt einen letzten Fetzen von seiner Beute, der brünstige Hirsch erinnert sich noch an die leidenschaftlichen Augenblicke der mondbeschienenen Nacht, er bleibt inmitten der Lichtung stehen, wo der Liebeskampf stattgefunden hat, stolz und mitgenommen hebt er seinen im Duell verwundeten Kopf und blickt sich mit blutunterlaufenen, ernsten Augen um, als könne er die Leidenschaft nie vergessen. Noch lebt tief im Wald die Nacht weiter: die Nacht und alles, was dieses Wort bedeutet: Beute, Liebe, Umherstreifen, ziellose Lebensfreude und Überlebenskampf. Das ist der Augenblick, da nicht nur im Dickicht der Wälder, sondern auch im Dunkeln der Menschenherzen etwas geschieht. Denn auch das Herz hat seine Nacht und seine Regungen, die so wild sind wie der Jagdinstinkt des Wolfes oder des Hirsches. Traum, Sehnsucht, Eitelkeit, Selbstsucht, Liebestollheit, Neid und Rachsucht lauern in der menschlichen Nacht wie der Puma, der Geier und der Schakal in der Wüstennacht. Es ist der Augenblick, da es im menschlichen Herzen weder Nacht noch Tag ist, da die wilden Tiere aus den geheimen Winkeln der Seele herausgekrochen sind, da sich etwas in unseren Herzen regt und dann auch unsere Hände bewegt, etwas, das wir jahrelang, vielleicht sogar jahrzehntelang meinten gezähmt und dressiert zu haben ... Es war alles vergebens, umsonst haben wir die wahre Bedeutung dieser Regung vor uns selbst geleugnet: Sie war stärker als unsere Absichten, sie ließ sich nicht auflösen, sie blieb fest. Im Grunde einer jeden menschlichen Beziehung gibt es einen greifbaren Stoff, und man kann noch so lange darüber nachdenken, darum herumreden, er ändert sich nicht. In Wirklichkeit verhielt es sich so, dass du mich vierundzwanzig Jahre lang gehasst hast, mit einer heißen Leidenschaft, die schon fast an die Glut großer Beziehungen erinnert - ja, an die Liebe. Du hast mich gehasst, und wenn ein Gefühl, eine Leidenschaft die Seele eines Menschen völlig erfüllt, dann glimmt und raucht unter einem solchen Scheiterhaufen neben aller Sympathie auch die Rachsucht ... Denn die Leidenschaft begründet sich nicht aus der Vernunft. Der Leidenschaft ist es völlig gleichgültig, was sie vom anderen bekommt, sie will sich ganz ausdrücken, sich ganz ausleben, auch dann, wenn sie dafür nur sanfte Gefühle, Höflichkeit, Freundschaft oder Geduld erhält. Jede große Leidenschaft ist hoffnungslos, sonst wäre sie keine Leidenschaft, sondern eine klug berechnete Übereinkunft, der Tauschhandel mit lauwarmen Interessen. Du hast mich gehasst, und das ist eine ebenso starke Bindung, wie wenn du mich geliebt hättest. Warum hasstest du mich? ... Ich
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