Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Glut

Die Glut

Titel: Die Glut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sándor Márai
Vom Netzwerk:
Sinn, der feiner und genauer ist als der Geruchs- oder der Gesichtssinn, erwachte in den Nerven des Tiers. Es konnte uns nicht sehen, und der Wind der Morgenfrühe wehte von ihm weg und konnte es nicht warnen; wir standen schon eine geraume Weile still, schon ganz erschöpft von der krampfhaften Haltung, ich vorn, zwischen den Bäumen am Rand der Lichtung, du hinter mir. Der Jäger und der Hund waren zurückgeblieben. Wir waren allein, mitten im Wald, in der Einsamkeit, die aus der Einsamkeit der Nacht, der Morgenfrühe, des Waldes und der Tiere besteht und in der man für einen Augenblick immer das Gefühl hat, man habe sich im Leben und in der Welt verirrt, und eines Tages müsse man in dieses wilde, gefährliche Zuhause zurückkehren, das doch das einzige und wahre ist - in den Urbereich des Waldes, der Wassertiefe, des Lebens. Ich habe es immer so empfunden, als ich noch im tiefen Wald auf die Jagd ging. Ich sah das Wild und blieb stehen, und auch du sahst es und bliebst zehn Schritte hinter mir stehen. Das sind die Augenblicke, in denen sowohl das Wild als auch der Jäger die Wirklichkeit mit feineren Sinnen erspürt, in denen man von der Situation und der Gefahr alles weiß, auch wenn es dunkel ist, auch wenn man sich nicht umblickt. Was für Wellen, Kräfte, Strahlungen vermitteln bei solcher Gelegenheit das Entscheidende? Ich weiß es nicht ... Die Luft war klar. Die Tannen blieben im leichten Wind unbewegt. Das Wild lauschte. Es rührte sich nicht, stand gebannt, denn in der Gefahr liegt immer auch ein Bann, ein Zauber. Wenn sich das Schicksal unmittelbar an uns wendet, uns gleichsam beim Namen ruft, schimmert am Grund der Beklemmung und der Angst immer auch eine Art von Anziehung, denn man will nicht nur leben, koste es, was es wolle, nein, man will sein Schicksal kennen und ganz auf sich nehmen, um jeden Preis, auch um den Preis der Gefahr und des Sterbens. So empfand es der Hirsch in jenem Augenblick, das weiß ich ganz sicher. Und so empfand auch ich es in jenem Augenblick, und auch das weiß ich ganz sicher. Und so empfandest es auch du, ein paar Schritte hinter mir, als du - gleicherweise gebannt wie das Wild und ich vor dir, beide in Schussweite - das Gewehr entsichertest, mit jenem leisen, kalten Klicken, wie es nur sehr edles Metall von sich geben kann, wenn es für eine endgültig entscheidende Aufgabe gebraucht wird, zum Beispiel, wenn ein Dolch einen anderen kreuzt, oder wenn man das edle englische Gewehr entsichert, um jemanden zu töten. An diesen Augenblick wirst du dich doch wohl erinnern? ...«
    »Ja«, sagt der Gast.
    »Ein klassischer Augenblick«, sagt der General fast schon mit der Zufriedenheit des Kenners. »Dieses leise Klicken habe selbstverständlich nur ich gehört: Es war so leise, dass es von dem dreihundert Schritt entfernten Wild trotz der Morgenstille nicht gehört werden konnte. Und da geschah etwas, das ich vor einem Gericht nie beweisen könnte, dir aber kann ich es sagen, weil du die Wahrheit sowieso weißt. Was geschah? ... Eigentlich nur, dass ich deine Bewegungen spürte, sie in jener Sekunde deutlicher spürte, als wenn ich sie gesehen hätte. Du standest in geringer Entfernung schräg hinter mir. Ich spürte, wie du dein Gewehr hebst, an die Schulter legst und zielst. Ich spürte, wie du ein Auge zudrückst und wie der Gewehrlauf jetzt langsam abdreht. Mein Kopf und der Kopf des Hirsches waren genau auf der gleichen Linie und auf der gleichen Höhe vor dir, es mögen zehn Zentimeter zwischen den beiden Zielpunkten gewesen sein. Ich spürte, dass deine Hand zitterte. Und ich wusste genau, so genau, wie nur der Jäger eine Situation im Wald beurteilen kann, dass du aus diesem Stand nicht auf den Hirsch zielen konntest: Versteh mich richtig, in dem Augenblick interessierte mich der jagdliche Aspekt der Situation viel stärker als der menschliche. Davon verstand ich nun doch etwas, von der Jagd, davon, in welchem Winkel man sich zu einem Hirsch stellen muß, der dreihundert Schritt entfernt arglos auf den Schuss wartet. Die Situation verriet mir alles, die geometrische Verteilung des Jägers und der Zielpunkte unterrichtete mich darüber, was einige Schritte hinter mir im Herzen eines Menschen vorging. Du zieltest eine halbe Minute lang, auch das weiß ich, ohne Uhr, und doch auf die Sekunde genau. In solchen Augenblicken weiß man alles. Ich wusste, dass du kein guter Schütze warst, dass ich bloß den Kopf ein wenig wenden musste, damit die Kugel an meinem Ohr

Weitere Kostenlose Bücher