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Die Glut

Die Glut

Titel: Die Glut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sándor Márai
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zittern, und du hast mich nicht umgebracht. Der Hirsch war schon zwischen den Bäumen verschwunden, wir rührten uns nicht. Ich wandte mich nicht um. Eine Weile standen wir noch so. Hätte ich dir in dem Augenblick ins Gesicht gesehen, hätte ich vielleicht alles erfahren. Aber ich wagte es nicht, dir ins Gesicht zu sehen. Es gibt ein Schamgefühl, das peinlicher ist als alles andere im Leben, das Schamgefühl des Opfers, wenn es gezwungen ist, seinem Mörder in die Augen zu blicken. Es ist der Moment, da sich die Kreatur vor dem Schöpfer schämt. Deshalb sah ich dir nicht ins Gesicht, und als der uns beide lähmende Bann nachließ, begann ich über die Lichtung zu gehen, auf die Hügelkuppe zu. Auch du setztest dich mechanisch in Bewegung. Unterwegs sagte ich, ohne mich zu dir umzuwenden: ›Du hast es versäumt.‹ Du sagtest nichts. Dieses Schweigen war ein Geständnis. Denn jeder würde in einer solchen Situation beschämt oder begeistert zu reden anfangen, sich scherzhaft oder beleidigt herauszureden beginnen; jeder Jäger sucht in einem solchen Moment zu beweisen, dass er recht hatte, dass das Wild es nicht wert war, dass die Distanz zu groß, die Treffsicherheit zu gering war ... Du aber schwiegst. Als sagtest du damit: ›Ja, ich habe es versäumt, dich zu töten.‹ Stumm erreichten wir die Hügelkuppe. Dort stand schon der Jäger mit den Hunden, unten im Tal fielen Schüsse, die Jagd hatte begonnen. Unsere Wege trennten sich. Beim Mittagessen - es war ein Jägeressen, im Wald - meldete dein Treiber, du seist in die Stadt zurückgefahren.«
    Der Gast zündet sich eine Zigarre an; seine Hände zittern nicht, er schneidet die Zigarrenspitze mit ruhigen Bewegungen ab. Der General beugt sich zu Konrád und gibt ihm mit einer Kerzenflamme Feuer.
    »Danke«, sagt der Gast.
    »Zum Abendessen bist du aber gekommen«, sagt der General. »Wie immer, wie jeden Abend. Du kamst zur gewohnten Stunde, in der Kalesche, um halb acht. Wie an so vielen Abenden aßen wir zu dritt, zusammen mit Krisztina. Es war im großen Saal gedeckt, so wie vorhin, mit demselben Tischschmuck, und Krisztina saß zwischen uns. Auf dem Tisch brannten blaue Kerzen. Sie mochte Kerzenlicht, sie mochte alles, was an Tradition, an edlere Lebensformen, an vergangene Zeiten erinnerte. Ich war nach der Jagd gleich in mein Zimmer gegangen, um mich umzuziehen, und hatte Krisztina am Nachmittag nicht gesehen. Der Diener hatte gemeldet, dass sie nach dem Mittagessen ausgefahren war, in die Stadt. Als ich den Saal betrat, saß Krisztina vor dem Kamin, mit einem leichten indischen Schal um die Schultern, denn das Wetter war neblig und feucht. Im Kamin brannte ein Feuer. Sie las und hörte mich nicht. Vielleicht schluckten die Teppiche das Geräusch meiner Schritte, vielleicht war sie zu sehr in die Lektüre vertieft - sie las ein englisches Buch, eine Reisebeschreibung über die Tropen -, jedenfalls bemerkte sie mein Kommen erst in dem Moment, als ich schon vor ihr stand. Da blickte sie auf - erinnerst du dich an ihre Augen? sie hatte eine Art aufzublicken, dass es gleichsam Tag wurde, helllichter Tag -, und vielleicht lag es am Kerzenlicht, dass ich über ihre Blässe erschrak. ›Ist Ihnen nicht gut?‹ fragte ich. Sie sagte nichts. Sie schaute mich lange aus weit aufgerissenen Augen an, und diese Sekunden waren fast so lang und fast so sprechend wie jene anderen am Morgen im Wald, als ich reglos stand und darauf wartete, dass etwas geschah: dass du etwas sagst oder abdrückst. Sie blickte mir so aufmerksam und forschend ins Gesicht, als hinge ihr Leben davon ab, dass sie herausfand, was ich dachte, ob ich etwas dachte, ob ich etwas wusste ... Das war ihr in dem Augenblick vielleicht wichtiger als das Leben. Das ist immer das wichtigste, wichtiger als die Beute, wichtiger als das Ergebnis: zu wissen, was das Opfer von einem denkt, das Wesen, das wir als Opfer ausersehen haben ... Sie blickte mir in die Augen, als wolle sie mich verhören. Ich glaube, ich hielt dem Blick stand. In diesen Sekunden, und auch später, war ich ruhig, mein Gesicht verriet ihr nichts. Und tatsächlich hatte ich an dem Morgen und an dem Nachmittag, auf dieser seltsamen Jagd, da ich auch der Gejagte war, mich durchgerungen, von dem morgendlichen Geschehen auf ewig zu schweigen, was immer das Leben bringen mochte, weder Krisztina noch der Amme, den beiden Menschen, die meine Vertrauten waren, je etwas von dem zu sagen, was ich in der Morgenfrühe im Wald hatte erfahren müssen. Ich

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