Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Glut

Die Glut

Titel: Die Glut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sándor Márai
Vom Netzwerk:
auch später nicht, als ich das Tagebuch lese. Dann aber kommt im Leben jener Tag und jene Nacht, der Tag der Jagd, und ich fühle mich, als sei dein Gewehr losgegangen, als sei die Kugel neben meinem Ohr vorbeigepfiffen. Und es kommt die Nacht, du gehst von uns weg, doch zuvor hast du noch mit Krisztina in allen Einzelheiten über die Tropen diskutiert. Und ich bleibe mit der Erinnerung an diesen Tag und an diesen Abend allein. Und finde das Tagebuch nicht am gewohnten Platz, in der Schublade von Krisztinas Schreibtisch. Ich beschließe, dich am nächsten Tag in der Stadt aufzusuchen und zu fragen ...«
    Er verstummt. Schüttelt nach Art alter Leute den Kopf, als staune er über eine Kinderei.
    »Was zu fragen? ...«, sagt er leise und abschätzig, wie um sich selbst zu verspotten. »Was kann man die Menschen mit Worten fragen? Und was ist die Antwort wert, die sie nicht mit der Wirklichkeit ihres Lebens, sondern mit Wörtern geben? ... Nicht viel«, sagt er bestimmt. »Es gibt nur sehr wenige Menschen, bei denen sich die Wörter mit der Wirklichkeit ihres Lebens völlig decken. Das ist vielleicht das Allerseltenste im Leben. Ich wusste das damals noch nicht. Ich denke jetzt nicht an die kläglichen Lügner. Ich denke daran, dass die Menschen vergeblich Wahrheiten finden, vergeblich Erfahrungen sammeln, ihr Grundnaturell können sie doch nicht ändern. Vielleicht kann man im Leben auch nichts anderes tun, als diese unabänderliche Gegebenheit, sein eigenes Grundnaturell, klug und vorsichtig an die Wirklichkeit anzupassen. Das ist alles, was wir tun können. Und auch davon werden wir weder klüger noch unverletzlicher, nein ... Ich will also mit dir reden, und ich weiß noch nicht, dass alles, was ich dich fragen kann, und alles, was du antworten kannst, an den Tatsachen nichts ändert. Der Wirklichkeit, den Tatsachen kann man sich aber mit Wörtern, mit Frage und Antwort, immerhin annähern: Deshalb will ich mit dir reden. Ich schlafe tief und erschöpft. Als hätte ich eine große körperliche Anstrengung hinter mir, einen langen Ritt, eine Wanderung ... Einmal hatte ich einen Bären auf dem Rücken von den Bergen heruntergetragen: Ich weiß, dass ich in jenen Jahren außergewöhnlich stark war, und doch staune ich jetzt nachträglich, wie ich diese Last über Berghänge und durch Schluchten zu tragen vermochte. Offenbar hält man alles aus, solange das Leben ein Ziel hat. Damals im Schnee schlief ich auf ähnliche Art erschöpft, nachdem ich mit dem Bären im Tal angekommen war; meine Jäger fanden mich halb erfroren neben dem toten Tier. Auf die Art schlief ich in jener Nacht. Tief und traumlos. Nach dem Erwachen lasse ich sogleich anspannen und fahre in die Stadt, zu deiner Wohnung. Stehe dort im Zimmer und erfahre, dass du abgereist bist. Erst am nächsten Tag erhalten wir beim Regiment deinen Brief, in dem du meldest, dass du auf deinen Rang verzichtest und ins Ausland reist. In dem Augenblick verstehe ich nur die Tatsache der Flucht, denn jetzt ist es sicher, dass du mich töten wolltest, dass etwas geschehen ist und noch geschieht, dessen wirkliche Bedeutung ich zunächst nicht begreife, und es ist auch sicher, dass mich das alles ganz persönlich angeht, dass das alles auch mit mir geschieht, nicht nur mit dir. So stehe ich in dem rätselhaften, mit prachtvollen Gegenständen vollgestopften Zimmer, als die Tür aufgeht und Krisztina eintritt.«
    Er trägt das alles im Erzählton vor, liebenswürdig, freundlich, gleichsam um den von fernher, aus ferner Zeit und entfernten Ländern, endlich heimgekehrten Freund mit den interessanteren Teilen einer alten Geschichte zu unterhalten.
    Konrád hört ihm reglos zu. Die erloschene Zigarre hat er auf den Rand des gläsernen Aschenbechers gelegt, er sitzt mit verschränkten Armen, unbewegt, in steifer und korrekter Haltung, ganz der Offizier, der sich mit einem Ranghöheren freundschaftlich unterhält.
    »Sie macht die Tür auf, bleibt auf der Schwelle stehen«, sagt der General. »Sie ist ohne Hut, sie kommt von zu Hause und hat den leichten Einspänner selbst gelenkt. ›Ist er weg?‹ fragt sie. Ihre Stimme ist seltsam heiser. Ich nicke, ja, er ist weg. Krisztina steht aufgerichtet und schlank in der Tür, vielleicht war sie nie so schön wie in diesem Augenblick. Sie ist blass wie die Verwundeten, die viel Blut verloren haben, nur ihre Augen leuchten fiebrig, wie am Vorabend, als ich zu ihr trat, während sie das Tropenbuch las. ›Er ist geflohen‹, sagt sie

Weitere Kostenlose Bücher