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Die Godin

Die Godin

Titel: Die Godin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Hueltner
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Minute verzweifelter, den Kopf. Die Tiere brüllten.
    Kajetan setzte sich langsam auf die hölzerne Bank, beugte sich vor, nahm seinen Kopf in seine Hände und schloß die Augen. Er war müde und ratlos. In seinem Kopf tollten Gedanken. Mias Vater ausgebrochen… In Brand gesteckt, das Zuchthaus… Einbrecher, die mit dem Auto kommen… ein Wagen mit Münchner Kennzeichen… Mias Vater tot… die alte Müllerin hatte ihn versteckt… dieselbe Müllerin ist Mias Godin gewesen… eine Godin, der das Schicksal ihres Godkindes nahezu egal war, weil sie nicht zur eigenen Familie gehörte … das Gesicht der alten Müllerin… irgendwo hatte er es schon einmal gesehen… Wo? Plötzlich wußte er es.
    Ruhe überkam ihn. Wie jener rückwärtslaufende Film im Kino am Isartor, den der Operateur einmal versehentlich falsch eingelegt hatte und der eigentlich das Zerspringen eines von einer Kugel getroffenen Spiegels zeigen sollte, statt dessen aber dem fasziniertem Publikum vorführte, wie sich Splitter um Splitter wieder zu einer blanken Fläche fügten, und wie die unbeirrte, gleichmäßige Unruhe einer Uhr, so fügte sich nun Bild an Bild, Wort an Wort.
    Der Stationsvorsteher gab das Signal zur Abfahrt. Der Zug setzte sich in Bewegung. Kajetan schüttelte wie betrunken den Kopf, als er es bemerkte. Mit einem Schrei hechtete er aus dem Abteil, rannte durch den Gang, stieß dabei eine voluminöse, noch unschlüssig nach einem Sitzplatz suchende Bäuerin um und riß die Waggontür auf. Die Gräser am Rande des Gleisdamms glitten vorbei. Kajetan holte tief Luft.
    Der Stationsvorsteher Thomas hatte sich, seit er auf diesen Posten befördert worden war, ein Benehmen zugelegt, wie es sich eben für eine Amtsperson gehörte, welche es nicht mehr nötig hat, sich mit dem Pöbel gemein zu machen. Wenn auch der Sarzhofener Bahnhof nicht unbedingt mit dem einer Metropole gleichzusetzen war und er selbst, außer beim Militär, kaum je einen Fuß aus dem Bauernland gesetzt hatte, so bestand doch sein Ehrgeiz darin, den Sarzhofenern zu zeigen, wie es in der großen Welt zugeht - und vor allem, mit welch angeborener Noblesse sich die Elite der bayerischen Beamtenschaft darin zu bewegen weiß.
    Als er jedoch diesen Verrückten aus dem bereits anfahrenden Zug springen sah, vergaß er, daß er sich vornehm von der Ungehobeltheit der ländlichen Bevölkerung absetzen wollte. »Sag einmal! Du Hornochs, du saublöder!« tobte sein Vilshofener Temperament, »ja, hats den jetzt? Springt der einfach aus dem Zug?« japste er und rief dem Flüchtenden, der mit fliegendem Mantel über das Feld in Richtung des Höllgrabens zu rannte, noch einige mehr als anrüchige Bezeichnungen hinterher.
     
     
    Es war Urbans Buick, der noch im Hof stand. Die Frontscheibe war zerschossen, die Seitenscheiben mit kreisrunden Einschüssen übersät, auch die Reifen hingen schlapp um die in den Kies gesunkenen Felgen. An mehreren Stellen der Karosserie waren Löcher in einer Größe zu erkennen, die von Kugeln einer großkalibrigen Waffe stammen mußten.
    Kajetan war außer Atem. Mit schnellen Schritten rannte er zum Haus. Er hatte die schwere Tür zum Mühlenraum so heftig aufgestoßen, daß sie zurückschwang und an die Wand krachte. Er taumelte erschöpft einige Schritte vorwärts.
    »Müllner Marie!« brüllte er. Sein Atem rasselte.
    Unter ihnen wummerte dumpf das Mühlwerk; es stampfte, summte, schabte wie ein riesenhaftes, verborgenes Uhrwerk. Mit langsamen Bewegungen drehten sich die Mahlstühle. Rhythmisch klackten die Adlerkrallen der Transmissionsbänder auf die Blankflächen der Antriebsscheiben. Von außen malte das matte Frühlicht gelbe Muster auf den Fußboden; feiner Staub tanzte aus den Ritzen der Bohlen.
    Die Müllerin saß bewegungslos am Ende des Raums und schien ihn nicht zu bemerken. Das Glas ihrer Brille blitzte sekundenkurz auf. Mit schweren Schritten ging Kajetan in die Mitte des Raums. Er blieb mit ausgestellten Beinen stehen und wiederholte ihren Namen.
    »Müllner Marie!«
    Ihr Blick war leer, und ihr alter Kopf hing zwischen den Schultern. Kajetan trat näher.
    »Godin, schlechte!« rief er schneidend.
    Ihre Lider hoben sich unmerklich. Die Knöchel ihrer Hand wurden weiß.
    »Laßts mir doch meinen Frieden«, sagte sie mit brüchiger Stimme. Ihre Lippen bewegten sich kaum.
    »Warum, Müllnerin? Magst nicht hören, daß du eine schlechte Godin bist? Heißt es denn nicht, daß eine Godin auf ihr Godkind Obacht gibt?«
    Mit einem wilden Ruck

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