Die Götter 2. Das magische Zeichen
Souanne ihm. Gleich hinter der Schwelle blieb sie ehrfürchtig stehen. Es handelte sich um einen kleinen Lesesaal: An allen Wänden standen Regale mit in Leder gebundenen Büchern. Josion lag auf einer gepolsterten Liege, die Decke bis zum Kinn hochgezogen. Sein Gesicht hatte tatsächlich wieder etwas mehr Farbe, auch wenn er für seinen von Natur aus dunklen Teint immer noch erstaunlich blass war.
Guederic wagte sich weiter ins Zimmer vor. Souanne wich ihm nicht von der Seite, sowohl aus Neugier als auch, um ihn davon abzuhalten, etwas Unüberlegtes zu tun. Ein beißender Geruch hing in der Luft, eine Mischung aus fremdartigen Gewürzen, hochprozentigem Alkohol und Pflanzenextrakten. Auf einem niedrigen Tisch neben Josions Krankenlager standen ungefähr zehn Fläschchen, daneben lagen mehrere Löffel und Pipetten. Mit einem Kopfnicken wies Guederic Souanne auf eine niedrige Kommode hin, dessen Türen offen standen. Sie war bis zum Rand gefüllt mit Phiolen der unterschiedlichsten Größen und Farben. Guederic nahm eine davon in die Hand, entstöpselte sie und roch an der Flüssigkeit. Angewidert verzog er das Gesicht und verschloss das Fläschchen hastig wieder. Souanne sah nervös zur Tür, wo sich ihre Freunde drängten. Anscheinend traute sich sonst niemand, das Zimmer zu betreten.
» Lass uns gehen! « , sagte sie angespannt. » Komm schon! Sonst wecken wir Josion noch! «
Guederic stellte die Phiole zurück an ihren Platz, wandte sich zu Souanne um und sah sie eindringlich an. Plötzlich sah sie ihn in einem neuen Licht. Bisher hatte sie nur Verachtung für den jungen Mann übrig gehabt: Er war ein Angeber, der mit großen Worten seine Unsicherheit überspielte. Doch jetzt las sie in seinem Blick viel mehr, als er sonst von sich zeigte. Zum ersten Mal seit dem Kampf von vergangener Nacht sahen sie einander in die Augen.
Zum ersten Mal auch, seit Souanne einen Menschen kaltblütig getötet und dabei ungeahnte Lust empfunden hatte.
Wie im Fieber wandte sie sich ab und drängte sich zwischen den anderen hindurch aus dem Zimmer. Sie wollte nur noch weg von ihnen – vor allem von Guederic. Also hatte sie es nicht geträumt: Er hatte sie auf ihre Tat angesprochen, als sie von dem Erlebnis noch ganz berauscht gewesen war. Er wusste Bescheid. Schlimmer noch, er hatte bereits Ähnliches erlebt, und damit stand er ihr von allen am Nächsten.
Ausgerechnet Guederic.
Während die Erben darauf warteten, dass Josion aufwachte, beschäftigten sie sich mit allerlei Dingen. Niemand wollte einfach nur tatenlos herumsitzen. Vor allem Najel hatte alle Hände voll zu tun, denn seine Schwester trug ihm immer neue Aufgaben auf: Erst schickte sie ihn Wasser holen, dann befahl sie ihm, ihre herumliegenden Sachen einzusammeln und ihre Säcke und Bündel neu zu schnüren. Als er damit fertig war, forderte sie ihn auf, ihre Lowa zu säubern. Diese Arbeit war die unangenehmste von allen: Die Klinge war schwarz vor getrocknetem Blut, kleine Hautfetzen klebten an dem Eisen. Doch Najel unterdrückte seinen Ekel und erfüllte die Aufgabe, ohne zu murren. Als die Waffe blitzblank war, polierte er sie unaufgefordert und trug sorgfältig eine dünne Schicht Fett auf.
Ihm war sehr daran gelegen, seiner Schwester diesen Gefallen zu tun. Er ahnte, nein, er wusste genau, warum Maara ihn derart herumkommandierte. Für die Prinzessin war das eine willkommene Gelegenheit, ihm klarzumachen, wer das Sagen hatte, und ihn gleichzeitig dafür zu bestrafen, einen Verrat begangen zu haben. Denn anders konnte man es nicht nennen.
Najel bereute die Entscheidung, die ihn zum Verräter gemacht hatte, keineswegs. Er hatte höchstens leichte Gewissensbisse, weil er seinem Vater den Gehorsam verweigert hatte. Die meiste Zeit jedoch versuchte er, nicht allzu viel an Ke’b’ree zu denken, zumindest nicht an den Auftrag, den er ihm und seiner Schwester erteilt hatte. Kein Zweifel, der Befehl des Wallattenkönigs war eindeutig gewesen – aber er hatte nicht vorhersehen können, in welcher Situation sich seine Kinder befanden: Vielleicht hätte er es sich dann ebenfalls anders überlegt. Und überhaupt – welchen Grund mochte Ke’b’ree gehabt haben, so etwas anzuordnen?
Sosehr sich Najel auch den Kopf zerbrach, er begriff nicht, warum sein Vater ihnen aufgetragen hatte, Guederic zu töten.
Zum Glück hatten sie die Sache nicht zu Ende gebracht. In der vergangenen Nacht hatten Najel und Maara Guederic durch die finsteren Gänge der Burg verfolgt und sogar
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