Die Götter 2. Das magische Zeichen
Schritte zu gehen.
Nein, von dem Wissen selbst ging keine Gefahr aus. Nur von seinen Anwendungsmöglichkeiten.
Deshalb machte sich Lorilis große Sorgen. Die Macht, die einem diese Wahrnehmung der Welt verlieh, war unermesslich. Und die Feinde ihrer Eltern, die jetzt auch ihre Feinde waren, hatten gezeigt, dass sie ebenfalls einige dieser Fertigkeiten besaßen und nicht davor zurückschreckten, sie brutal einzusetzen. Vermutlich war Lorilis’ Fähigkeit überhaupt erst durch den Kontakt zu ihnen zum Vorschein gekommen. Schließlich hatte sie die ersten Veränderungen gespürt, als sie in Benelia gegen einen Hexer gekämpft hatte. Der Blitz, der sie auf der Insel niedergestreckt hatte, hatte ihre Verwandlung nun offenbar vollendet. Vielleicht hatte er ihre Entwicklung auch beschleunigt und dabei ein paar Stufen übersprungen. War das gefährlich? Höchstwahrscheinlich – wie alles, was mit der neuen Magie zusammenhing.
So folgte ein Gedanke auf den anderen. Lorilis fragte sich, woher ihre Feinde ihre Kräfte haben mochten. Irgendwer musste sie in die Kunst der schwarzen Magie eingeführt haben, zumindest all jene, die eine Begabung dafür zeigten. Wer, wenn nicht der von den Toten auferstandene Dämon selbst, hätte das tun können? Wer sonst war in der Lage, übernatürliche Kräfte heraufzubeschwören und sie auf gewöhnliche Sterbliche zu übertragen? Wer sonst konnte Geheimnisse ausgraben, die die Menschen möglicherweise dazu brachten, sich selbst zu vernichten? Ein einziger Name kam ihr in den Sinn: Sombre.
Der Gedanke, dass ihre rätselhaften Kräfte möglicherweise von dem Dämon selbst stammten, verwirrte Lorilis zutiefst. Verzweifelt suchte sie nach einer anderen Erklärung. Vielleicht handelte es sich ja auch um eine Art Unfall. Ihre Feinde hatten bestimmt nicht die Absicht gehabt, ihre Kräfte auf sie zu übertragen! Das würde bedeuten, dass sie ihre Entwicklung nur einem dummen Zufall zu verdanken hatte – oder, je nach Sichtweise, einem Glücksfall. Der Dämon hatte sicher nicht gewollt, dass Lorilis diese Gabe an sich entdeckte. Vielleicht hatte Sombre seinen Feinden dadurch sogar eine der wenigen Waffen in die Hände gegeben, mit denen er zu besiegen war.
Erschreckt darüber, was das für sie bedeutete, schob sie den Gedanken beiseite. Das waren alles nur Hirngespinste, Nachwirkungen ihrer Ohnmacht. Vielleicht trübte auch einfach die Erschöpfung ihr Urteil.
Für den Bruchteil einer Dezille hatte sie sich als die neue Erzfeindin gesehen. Eine Erzfeindin, von der keine Prophezeiung gekündet hatte, der aber bald die Aufgabe zukommen würde, die bekannte Welt zu retten!
Lorilis schwor sich, den anderen kein Wort von all dem zu erzählen. Es war schon schwierig genug, ihren Feinden zu entkommen und am Leben zu bleiben. Sie wollte keine Erwartungen wachrufen, die sie nicht erfüllen konnte.
Josion sprang ins Wasser und kämpfte sich durch die Brandung bis zum Strand. Dann rannte er hinauf zu den Dünen und winkte seinen Gefährten in den Booten zu: Sie waren an der richtigen Stelle gelandet. Ohne Leuchtturm oder sonstige Orientierungshilfen war der Strand mitten in der Nacht nicht einfach zu finden gewesen. Sein Kompass war eine große Hilfe gewesen, doch sie waren trotzdem leicht vom Kurs abgekommen und hatten noch eine Weile an der Küste entlangrudern müssen. Endlich hatten sie das Festland erreicht. Alle waren zu Tode erschöpft, erschüttert von den schlechten Neuigkeiten und zum Teil verletzt, aber immerhin lebten sie. Als sie in der Falle saßen, hatten sie nicht mehr daran geglaubt, entkommen zu können.
Allerdings war das Schicksal von Zejabel nach wie vor ungewiss: Sie war noch immer nicht aufgewacht.
Josion hatte ihre Kopfwunde untersucht und verbunden und dabei festgestellt, dass sie nicht sehr tief war. Das bereitete ihm Sorgen. Der Armbrustbolzen musste sie ungünstig getroffen haben, um sie so lange Zeit außer Gefecht zu setzen. Je mehr Dezimen verstrichen, desto banger wurde ihm. Noch hatte niemand laut ausgesprochen, was alle beschäftigte: Würde Zejabel jemals wieder zu sich kommen?
Josion verbot sich, über diese Frage nachzudenken. Er wartete nicht, bis die anderen die Boote an den Strand gezogen hatten, sondern brachte seine Mutter durch die Wellen schnellstmöglich an Land. Er hatte sie immer für eine unbesiegbare Kriegerin gehalten, doch jetzt wirkte ihr Körper beängstigend leicht und verletzlich. In bedrücktem Schweigen trug er sie hinter die ersten Dünen,
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