Die Götter 2. Das magische Zeichen
und sie haben überlebt. Sie konnten ihre Feinde sogar besiegen! Ich glaube, jetzt sind wir an der Reihe. Vielleicht ist das Schicksal unserer Familien wie ein Seil, das jede Generation weiterknüpfen muss … Du weißt schon, wie ich das meine. Meine Schwester fände einen solchen Vergleich schrecklich « , sagte er mit einem schiefen Lächeln.
» Aber wir haben keine Ahnung, wohin uns dieses Seil führt « , entgegnete Lorilis. » Unsere Eltern hatten wenigstens die Prophezeiung vom Erzfeind. Wir wissen nicht einmal, wer unsere Feinde sind … «
» Vielleicht erfahren wir von Usul mehr. «
Er glaubte selbst nicht so richtig daran, aber er durfte die Angst nicht die Oberhand gewinnen lassen.
» Bisher haben alle von uns die Kämpfe überlebt « , fuhr er fort. » Das ist doch ein gutes Omen, oder? Die Geschichte wird sich wiederholen. Wir werden unsere Feinde besiegen, und alles wird wieder gut. «
» Darauf würde ich nicht schwören « , murmelte das Mädchen. » Unsere Eltern und Großeltern hatten viel Glück. Aber das heißt gar nichts. Außerdem war das noch vor dem Verschwinden des Jal. Womöglich sind die Regeln, nach denen das Seil des Schicksals geknüpft wird, inzwischen andere. «
Sie seufzte, griff nach ein paar beschriebenen Seiten und hielt sie Najel hin.
» Wenn sich die Geschichte wirklich wiederholt, dann müssten meine Kinder in zwanzig Jahren diese Seiten lesen, um einer neuen Generation Feinde zu entkommen. Das will ich aber nicht. Am liebsten wäre mir, wenn das alles nie passiert wäre. Ich will, dass meine Eltern zurückkommen. Ich will, dass unsere Feinde im Meer versinken. Ich will, dass die ganze Sache ein für alle Mal beendet ist und wir nie wieder kämpfen müssen … «
Sie war zu ergriffen und hielt inne. Ihre Worte hatten auch Najel aufgewühlt, aber er wollte sich nicht so einfach geschlagen geben.
» Vielleicht ist der Kampf unserer Generation ja tatsächlich der letzte « , sagte er. » Und unsere Kinder, äh, ich meine, deine Kinder können in Frieden leben. «
Sein Versprecher ließ ihn erröten, aber Lorilis war offenbar zu erschüttert, um etwas davon mitzubekommen. Traurig nickte sie und legte die Blätter zurück auf den Tisch. Abermals sah sie dem Jungen tief in die Augen, und Najel begriff, dass sie ihm jetzt ihr Geheimnis anvertrauen würde. Das Geheimnis, das sie seit jener Nacht mit sich herumtrug, als die Gefährten in dem Getreidespeicher des verfallenen Bauernhofs übernachtet hatten.
» Ich habe unsere Eltern auf dem untergehenden Kutter gesehen, Najel. Es war, als hätte ich direkt hinter ihnen gestanden. Ich hörte das lodernde Feuer, das Knacken des Holzes und den Wellenschlag gegen den Rumpf … Ich würde so gern glauben, dass sie noch leben, ich bete mit aller Kraft um ein Wunder, ich will nicht, dass sie tot sind, aber … Aber ich weiß einfach nicht, wie sie ein solches Inferno hätten überleben sollen. Leider wiederholt sich die Geschichte dieses Mal nicht. Keine wohlmeinende höhere Macht wacht über uns, leider. «
Darauf wusste Najel keine Antwort. Er hatte keinen Zweifel daran, dass Lorilis die Wahrheit sagte – und diese schreckliche Vorstellung ließ ihn erstarren. Er fühlte sich, als hätte er soeben zum zweiten Mal erfahren, dass sein Vater tot war.
Verunsichert durch sein Schweigen machte Lorilis eine entschuldigende Geste. Bestimmt hatte sie genau deshalb ihr Geheimnis für sich behalten: um die anderen nicht noch trauriger zu machen. Er konnte es ihr nicht verübeln.
Nach einer Weile wandte sich das Mädchen wieder ihrem Schreibheft zu. So hatte eben jeder seine Art, mit seinen Ängsten umzugehen.
Indes stieg Najel hoch an Deck zu Zejabel und Guederic. Auch die beiden starrten schweigend vor sich hin, was ihm sehr entgegenkam.
Alle drei warteten auf die Rückkehr eines geliebten Menschen. Noch nie hatte Najel seine Schwester so sehr vermisst wie in diesem Moment.
Sie hatten bereits zwei Runden um den Platz der Reiter gedreht: Zunächst waren sie im Wandelgang an den reich verzierten Fassaden der Häuser vorbeigeschlendert, dann hatten sie durch die angrenzenden Gassen einen großen Bogen um den wichtigsten Platz Lorelias geschlagen. Allmählich verlor Maara die Geduld. Außerdem zweifelte sie am Nutzen dieses Manövers – und sie scheute nicht davor zurück, diese Meinung kundzutun.
» Ich frage mich wirklich, was wir hier machen « , maulte sie. » Wir laufen und laufen und entfernen uns immer weiter vom Palast!
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