Die Götter - Die Macht der Dunkelheit - Grimbert, P: Götter - Die Macht der Dunkelheit - Les Gardiens de Ji, Tome 3: Le deuil écarlate
zusammen, als Guederics Hand ihre Schulter berührte. Ihr erster Impuls war, ihn wegzustoßen, ihn zu beschimpfen und ihm vorzuwerfen, dass alles seine Schuld war. Seinetwegen hatte sie dieses Opfer bringen müssen. Sie wollte ihm gegenüber nicht schon wieder Schwäche zeigen, nicht nachdem ihr Versuch, ihn zu töten, gescheitert war. Doch sie tat nichts dergleichen, im Gegenteil. Sie ließ zu, dass er den Arm um sie legte, und schmiegte sich sogar an seine Schulter. Sie vermisste ihre Eltern. Plötzlich fühlte sie sich außerstande, Wallos zu regieren, ein Königreich, dessen Grenzen ständig von feindseligen Nachbarn bedroht wurden. Sie wollte nichts weiter als getröstet und beschützt werden, auch wenn es nur für einen kurzen Augenblick wäre. Und wer wäre besser dazu geeignet als der gut aussehende Lorelier, der im Kampf die Kraft von zehn Männern entfesselte – auch wenn sie nicht wusste, woher diese Kraft stammte.
» Wein doch nicht«, flüsterte er sanft.
Sofort nahm sie wieder Abwehrhaltung ein. Weinte sie etwa? Nein, das musste die Gischt sein oder ein Rest Sprühregen oder Wasser, das von ihrem Haar herabtropfte. Wallattische Königinnen weinten nicht. Niemals.
» Nicht weinen«, wiederholte er. » Wenn meine Kräfte weiter wachsen, und davon gehe ich aus, werde ich bald imstande sein, die Gwelome unserer Eltern auszumachen. Und wenn es das Jal noch gibt oder wenn sich unsere Eltern daraus befreit haben, werden wir sie finden.«
Etwas Schöneres hätte er in diesem Augenblick nicht sagen können. Ein unverhofftes Wohlgefühl strömte durch ihren Körper und Geist.
Und dieses Wohlgefühl verstärkte sich noch, als sie begannen sich zu küssen.
Für den Rest der Nacht blieb alles ruhig. Die Wachen, die sich an Deck abwechselten, bekamen den Großsegler nicht mehr zu sehen. So setzten die Gefährten bald wieder Segel, um ihrem Ziel Romin näher zu kommen. Im Morgengrauen passierten sie das Kap von Helanien und verließen endgültig die Piratengewässer des romischen Meeres.
Damián war schon bei den ersten Sonnenstrahlen auf den Beinen und überprüfte den Zustand der Wasserratte. Dann suchte er den Horizont ab, weil er fürchtete, Saats Segler könnte kehrtgemacht haben. Als er sich überzeugt hatte, dass alles in Ordnung war, überließ er Guederic und Najel das Steuer und ging unter Deck, um sich einer Arbeit zuzuwenden, die er schon viel zu lange vor sich herschob: die Aufzeichnungen seines Vaters entschlüsseln.
Josion hatte seine Wache dazu genutzt, Amanóns Pangramm ins Altitharische zu übersetzen. Es grenzte an ein Wunder, dass ihm die längst vergessenen Wörter und die richtigen grammatischen Formen eingefallen waren, aber schließlich war es ihm gelungen. Nun hatte der Ritter zwei Sätze, die jeweils alle Buchstaben des Alphabets enthielten und die gleiche Anzahl an Zeichen umfassten. Er brauchte bloß noch seine Theorie zu überprüfen: Hatte Amanón tatsächlich die Pangramme benutzt, um seine Schriften zu verschlüsseln?
Als er sich mit seinen Heften und Papierstapeln in der Kombüse an den Tisch setzte, traute sich keiner der anderen, ihn zu stören. Alle wussten, was auf dem Spiel stand, und obwohl sie neugierig den Ausgang seiner Arbeit erwarteten, hielten sie sich mit Fragen zurück. So hatte Damián seine Ruhe, und in der andächtigen Stille schrieb er die beiden Pangramme untereinander auf ein weißes Blatt Papier. Zwischen den einzelnen Zeichen ließ er einen Abstand und ordnete sie in vertikalen Paaren an. So erhielt jeder Buchstabe seine Entsprechung. Schließlich kam der Augenblick der Wahrheit.
Als Offizier der Grauen Legion, dem gründliche Arbeit wichtig war, begann er mit der ersten Seite des ältesten Hefts seines Vaters. Er schrieb das erste Wort in der verschlüsselten, unverständlichen Sprache auf und ersetzte jeden Buchstaben durch den Buchstaben des Pangramms, den er ihm vorher zugeordnet hatte.
Das Wort lautete ›Seit‹.
Damián seufzte erleichtert und streckte sich einen Moment auf der Bank aus, um den Sieg auszukosten. Dann machte er sich erneut an die Arbeit und begann fieberhaft mit der Transkription. Endlich hatte er den Schlüssel gefunden! Alles, was Amanón an Hinweisen gesammelt hatte, war den Erben nun zugänglich.
Während des ersten Dekants, den er mit dieser Aufgabe verbrachte, empfand Damián hauptsächlich Wehmut. Es war schwer genug, die Aufzeichnungen seines Vaters durchzusehen, aber die Texte bezogen sich auch noch auf die Zeit kurz
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