Die Götter - Die Macht der Dunkelheit - Grimbert, P: Götter - Die Macht der Dunkelheit - Les Gardiens de Ji, Tome 3: Le deuil écarlate
Decke herab und musterten die Sterblichen halb verächtlich, halb gierig.
» Wo ist mein Bruder?«, rief Damián abermals, allerdings ohne große Hoffnung auf eine Antwort.
Die mittlere Sirene grinste hämisch und stieß einen gellenden Schrei aus, der von den Felswänden widerhallte. Die Pforte schien darauf zu reagieren, denn die Bilder folgten jetzt noch schneller aufeinander. Und in diesem Moment kam ein ganzer Schwarm Geister hinter dem Bauwerk hervor. Mitten in der weißen Wolke hing Guederic, gefesselt und geknebelt von unzähligen gespenstischen Armen. Als er die anderen sah, bäumte er sich auf und wehrte sich mit aller Kraft gegen die ihn umschlingenden Glieder, aber gegen eine derartige Übermacht konnte er nichts ausrichten.
Die Überzahl ihrer Gegner schreckte Maara offenbar nicht. Wie es bei ihren barbarischen Ahnen Brauch war, stieß sie ein wildes Gebrüll aus, stürzte sich auf die Sirenen und hieb wie wild mit der Lowa auf sie ein. Damit bestätigte sie, was die Gefährten bereits geahnt hatten: Sie empfand mehr als nur Freundschaft für Guederic. Der mutige Vorstoß der Kriegerin war jedoch nicht von Erfolg gekrönt. Josion und Zejabel sprangen der Wallattin bei, aber nur, um ihren Rückzug zu decken. Unzählige Geister hatten sich von den Wänden gelöst und bedrängten Maara, um sie in Stücke zu reißen.
» Lasst ihn los«, schrie sie außer sich vor Wut.
» Was wollt ihr von uns?«, rief Damián ebenso zornig. » Warum habt ihr ihn noch nicht getötet?«
Das Grinsen der Sirene wurde noch breiter, und ihr weißliches Gesicht verzog sich zu einer schaurigen Grimasse. Sie gab ihren Schwestern ein Zeichen, und diese schwebten eilfertig auf sie zu, nur um im nächsten Moment mit ihr zu verschmelzen.
Zwei, drei, fünf Sirenen vereinigten sich auf diese Weise mit der ersten. Die Anführerin wurde immer größer, ihr Weiß wurde kräftiger, und ihre Silhouette zog sich in die Länge, bis sie an ein Reptil erinnerte. All das rief ungute Erinnerungen in Josion wach, und er warf seiner Mutter einen fragenden Blick zu. Auch Zejabel hatte die Metamorphose wiedererkannt: Die Undinen, die Ewigen Wächterinnen des Jal’karu, hatten sich auf ebensolche Weise verwandelt. Welche Verbindung gab es zwischen den Geistern von Romerij und den Flammenungeheuern des Karu? Waren sie womöglich Teile ein und desselben Wesens?
Als die Sirenenkönigin auf ihre zweifache Größe angewachsen war, antwortete sie Damián schließlich, ohne dabei ihre Verwandlung zu unterbrechen. Aus allen Ecken des Saals strömten weitere Sirenen herbei und lösten sich in ihrem Körper auf.
» Ich will, dass ihr meinen Bruder tötet«, zischte die Sirenenkönigin. » Denjenigen, den ihr Nol den Seltsamen nennt! Dann bekommt ihr euren Freund zurück.«
Vor Überraschung verschlug es den Erben einen Moment lang die Sprache. Souanne hatte in dieser Nacht schon so viel Ungeheuerliches erlebt, dass sie ganz benommen war. Erst hatte die Legionärin eine rätselhafte Eingebung gehabt, dank der sie ihre Gefährten zum Eingang des Turms geführt hatte, dann waren die Erben von Gespenstern angegriffen worden, dann war Guederic Hals über Kopf die Treppe hinabgeflüchtet, und schließlich waren sie ihm in die Finsternis gefolgt. Souanne hätte nicht gedacht, dass sie noch irgendetwas erschüttern könnte, aber sie hatte sich geirrt: Einer der ältesten Dämonen der bekannten Welt versuchte, sie zu erpressen!
» Euer Bruder?«, wiederholte Damián verwirrt. » Aber Nol lebt doch gar nicht mehr. Er hat sich zusammen mit dem Jal in nichts aufgelöst!«
Die Sirene, die mittlerweile noch größer geworden war und zunehmend schuppiger wurde, schüttelte verächtlich den Kopf. » Sterbliche sind und bleiben unwissende Würmer«, fauchte sie. » Seid ihr wirklich so dumm, dass ihr das Offensichtliche nicht seht? Bin ich etwa nicht quicklebendig? Mein Bruder mag zwar der Älteste von uns gewesen sein, und man mag ihn den Ewigen Gott genannt haben, aber seine Eltern waren Menschen aus Fleisch und Blut. Sie waren gewöhnliche Sterbliche, die ihm eine Seele mitgegeben haben, genau wie mir! Deshalb konnte uns die Auflösung des Jal nichts anhaben. Wir haben überlebt!«
Plötzlich bekam Souanne heftige Kopfschmerzen. Die Worte der Sirene und die Bilder, die sie heraufbeschwor, schmetterten wie ein Rammbock gegen eine geschlossene Tür in ihrem Geist. Instinktiv wusste sie, dass die Sirene die Wahrheit sagte. Das würde zudem erklären, warum Eryne die
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