Die Götter - Die Macht der Dunkelheit - Grimbert, P: Götter - Die Macht der Dunkelheit - Les Gardiens de Ji, Tome 3: Le deuil écarlate
Ratten.
Die Zeit war reif.
Mittlerweile waren zwei Drittel der Gespenster, die in der Höhle hausten, mit der Sirenenkönigin verschmolzen. Diese hatte ihre Metamorphose noch nicht vollendet, aber Souanne wollte ihr auch keine Gelegenheit dazu geben. Sie ließ ihren Arm vorschnellen und wies mit der Handfläche auf einen Geist ganz in ihrer Nähe. Dann rief sie aus voller Kehle » Eurydis«. Ihr Ruf schoss durch die Höhle wie ein Pfeil.
Das Gespenst zuckte zurück, als wäre es tatsächlich getroffen worden, und löste sich auf wie Nebel im Sonnenlicht. Souanne nahm sich nicht die Zeit, ihren Sieg auszukosten. Sie wandte sich den Geistern zu, die Guederic umschlungen hielten, und rief wieder und wieder Eurydis’ Namen. Einer nach dem anderen löste sich vor ihren Augen auf, besiegt von einer unsichtbaren Macht.
Sogleich folgten die Gefährten ihrem Beispiel, allerdings ohne Erfolg. Souanne war die Einzige, der es gelang, die Anzahl ihrer Feinde zu verringern. Sie wusste selbst nicht, warum. Vermutlich war auch das Teil der Veränderung, die sie durchmachte. Als die Gefährten die Treppen des Tiefen Turms hinuntergerannt waren und voller Inbrunst den Namen der Göttin gerufen hatten, war Souanne der Widerhall durch Mark und Bein gedrungen. Deshalb hatte sie selbst zu jenem Zeitpunkt geschwiegen. Doch seit sie die Pforte erreicht hatten, spürte sie instinktiv, dass nun der Augenblick gekommen war, Eurydis’ Namen zu rufen.
Dennoch waren die Erben in diesem Kampf hoffnungslos unterlegen. Die Geister reagierten blitzschnell auf Souannes Überraschungsangriff. Sobald sie begriffen hatten, dass sich die Sterblichen nicht auf den Handel einlassen wollten, den ihre Königin vorgeschlagen hatte, ließen sie ihren niederen Trieben freien Lauf. Ein wild fauchendes Knäuel stürzte sich auf Souanne, und die Erben mussten alles aufbieten, um ihre Gefährtin zu beschützen. Zum Glück waren die Sirenen gezwungen, festere Gestalt anzunehmen, um angreifen zu können, und so schlugen die Erben sie mehr oder minder erfolgreich zurück. Die Laternen halfen ihnen diesmal nicht weiter: In dem Saal mit der Pforte gab es keine Bücher, die sie hätten verbrennen können.
Es dauerte einen Moment, bis die Schlangenkreatur begriff, dass mit der plötzlichen Wendung der Ereignisse ihre letzte Chance auf Befreiung dahin war. Sie fauchte wütend und stürzte sich auf Souanne.
Die Legionärin bewahrte einen kühlen Kopf und schaffte es, ihre selbst auferlegte Mission zu Ende zu bringen: Es gelang ihr, genug Gespenster zu vernichten, damit sich Guederic befreien konnte. Sie alle waren im Kampf auf seine Kraft und Aggressivität angewiesen, ganz gleich, woher er diese beziehen mochte. Und endlich riss sich Guederic von den letzten Geistern los, die ihn umschlangen. Er wich ihren Krallen geschickt aus und zog das Rapier, das immer noch an seinem Gürtel hing. Dann kämpfte er allein gegen dreißig Sirenen, die ihn in Stücke reißen wollten.
Erst jetzt kümmerte sich Souanne um ihre eigene Sicherheit. Die Sirenenkönigin schoss auf sie zu wie ein Monster aus einem Alptraum. Ihre Verwandlung war immer noch nicht ganz abgeschlossen: Sie war jetzt halb ein weibliches Gespenst, halb eine Schlange mit Armen. Das schauerliche Reptil wirkte wahrhaftig wie die Herrscherin des Karu, wie eine Ausgeburt von Chaos und Wahnsinn. Noch während es sich auf Souanne stürzte, verschmolz es mit den Sirenen in seiner Umgebung. Die Sirenenkönigin hatte es offensichtlich eilig, ihre endgültige Gestalt anzunehmen, um die Eindringlinge vernichten zu können.
» Eurydis, Eurydis«, rief Souanne ihr entgegen.
Ihre Stimme klang verzweifelt, und vielleicht zeigte der Ruf deshalb keine Wirkung. Womöglich hatte die Verschmelzung mit ihrer Herrscherin die Sirenen aber auch unverwundbar gemacht. Ganz gleich, was der Grund war, Souanne war verloren.
Als die Kreatur nah genug war, um der Legionärin den tödlichen Schlag zu versetzten, ließen die noch verbliebenen Sirenen von den Erben ab und stoben auseinander wie ein Schwarm Geier, der beim Fressen gestört wird. Die Hälfte von ihnen verschmolz mit dem schaurigen Reptil, um dessen Metamorphose zu beenden. So hatten die Erben eine kurze Verschnaufpause, und in diesem Moment rief Lorilis:
» Die Pforte! Seht nur, da ist ein Licht!«
Als Souanne einen kurzen Blick über die Schulter warf, um zu sehen, was das Mädchen meinte, wurde sie brutal zu Boden geschleudert: Zejabel hatte sie umgerissen. Fast im selben
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