Die Götter - Die Macht der Dunkelheit - Grimbert, P: Götter - Die Macht der Dunkelheit - Les Gardiens de Ji, Tome 3: Le deuil écarlate
tausend Namen: Sie war die Undinen, die Sirenen, der Schattenfresser, die Ewige Wächterin des Karu. Genau wie Nol der Seltsame hatte sie einst von einer Welt in die andere wechseln können. Doch im Gegensatz zu ihrem Bruder hatte ihre wechselhafte Gestalt sie zu einem Leben in den Höhlen des Karu und im Büchersaal unter dem Tiefen Turm verdammt. Jenem Ort, der ihr das Wissen über die Zukunft der Menschen geliefert haben mochte – bis mit dem Verschwinden des Jal ein neues Zeitalter angebrochen war.
Jetzt war die einstige Gottheit nur noch ein Schatten ihrer selbst, eine erbärmliche Kreatur ohne jede Macht. Würde sie durch den Tod ihres Bruders tatsächlich ihre Freiheit erlangen? Souanne bezweifelte es. Die Gesetze, die früher die Welt beherrscht hatten, waren nicht mehr gültig. Die Geister, aus denen die Sirenenkönigin bestand, würden sich vermutlich in nichts auflösen, wenn sie versuchte, diesen Ort zu verlassen. Wahrscheinlich war die einstige Herrscherin über die Welt der Dämonen ebenso verzweifelt wie hilflos. In dem Augenblick, als sie dem Karu den Rücken gekehrt hatte, hatte sie ihre Allwissenheit und damit auch ihre ganze Macht verloren. Die Ankunft der Sterblichen heute Nacht musste für sie eine große Überraschung gewesen sein. Hatte sie die Gefährten als die Erben von Ji erkannt, als die Nachfahren derer, die ihr Reich zerstört hatten? Das konnte Souanne nicht mit Sicherheit sagen. Aber eins stand fest: Die Sirenenkönigin konnte es sich nicht erlauben, sie zu töten. Sie waren ihre einzige Chance, ihrem Gefängnis je zu entkommen. Und dieser Gedanke machte Souanne Mut.
Plötzlich spürte sie eine unerwartete Kraft in sich. Selbst auf die Entfernung konnte sie Guederics stumme Aufforderung spüren. Jeden Moment war es so weit: Sie würde einen Vorstoß wagen, sie brauchte nur noch ein bisschen Zeit. Aber allzu lange durfte sie nicht mehr warten. Bald würde die Kreatur ihre Verwandlung vollendet haben, und dann wären die Erben machtlos gegen sie.
Die anderen scharten sich instinktiv um Souanne. Auch sie schienen etwas zu spüren. Sie hatten gemeinsam schon so viele Kämpfe gefochten, dass sie nicht einmal mehr ein geheimes Zeichen brauchten, um sich zu verständigen. Sobald sich einer von ihnen irgendwie ungewöhnlich verhielt, waren alle auf der Hut. Und dass Souanne die Sirenenkönigin in ein Gespräch verwickelte und dabei jeden Muskel anspannte, war für ihre Gefährten ein Zeichen, sich bereitzuhalten.
» Aber wie sollen wir Nol töten? Er ist doch unsterblich«, fuhr Souanne fort. » Was Ihr von uns fordert, ist unmöglich!«
» Er ist genauso sterblich wie jeder von euch!«, rief die Dämonin triumphierend. » Seine Göttlichkeit ist mit dem Jal verschwunden. Jetzt hat er nur noch seine jämmerliche sterbliche Seele, die ihm seine Eltern mitgegeben haben!«
Diese Neuigkeit traf die Gefährten wie ein Blitz. Souanne warf Damián einen kurzen Blick zu. Auch ihm musste die Tragweite der Enthüllung klar sein. Vermutlich galt das, was die Sirene über Nol hatte, für alle Götter und Dämonen, die den Anbruch des neuen Zeitalters überlebt hatten. Und das bedeutete, dass auch die Sirenenkönigin selbst sterblich war.
Natürlich machten die beachtliche Größe, die die Kreatur mittlerweile erreicht hatte, und ihr durchsichtiger Körper die Sache nicht leichter. Dies waren vermutlich ihre zwei größten Stärken, klägliche Überreste ihrer einstigen Macht. Trotzdem konnte die Sirenenkönigin die Erben immer noch mit einer einzigen Bewegung töten.
» Es können Monde, wenn nicht gar Jahre vergehen, bis wir Euren Bruder gefunden haben«, fuhr Souanne fort. » Was werdet ihr in dieser Zeit mit unserem Gefährten machen?«
» Wir werden uns gut um ihn kümmern«, zischte die Kreatur. » Ich werde darüber wachen, dass die grausamsten meiner Untertanen ihn in Ruhe lassen. Wir werden ihm auch erlauben, in den oberen Etagen auf Nahrungsjagd zu gehen. Manchmal gibt es dort fette Ratten …«
Ihrer Stimme war anzuhören, dass sie bereits von dieser Beute gekostet hatte. Was für ein trauriges Ende für die Königin des Karu! Jetzt, da sie sich nicht mehr an den Seelen der Verstorbenen laben konnte, musste sie sich von minderwertigem Fleisch ernähren. Souanne hatte jedoch kein Mitleid mit der Dämonin, und sie hatte auch keine Lust, sich anzuhören, welches grausame Schicksal sie Guederic zugedacht hatte: ein Leben in ewiger Finsternis in der Gesellschaft von Gespenstern und
Weitere Kostenlose Bücher