Die Götter - Die Macht der Dunkelheit - Grimbert, P: Götter - Die Macht der Dunkelheit - Les Gardiens de Ji, Tome 3: Le deuil écarlate
sie die Schwelle des Todes, kehrte dann aber in die Welt der Sterblichen zurück, was eigentlich unmöglich war. Und beide Male machte sie dieselbe Erfahrung: Ihr Geist flog durch die bekannte Welt auf das Rideau-Gebirge zu, wo er in die Gärten des Dara einging. Dort spürte sie einen starken Sog, einen Zwang, ihre Seele mit der eines Götterkindes zu vereinigen. Wenn sie das getan hätte, wäre sie wohl nie mehr in die Welt der Lebenden zurückgekehrt. Aber Niss zufolge war das kein unangenehmes Gefühl. Es war einfach das, was nach dem Tod kam.«
Auf seine Worte folgte ernstes Schweigen, das jedoch nicht lange anhielt – dazu warfen Damiáns Erklärungen zu viele Fragen auf.
» Und wohin gingen die Seelen der Toten vor der Schöpfung des Jal?«, fragte Souanne.
» Und wohin gehen sie jetzt, nach seinem Verschwinden?«, fügte Damián hinzu. » Das weiß niemand. Ich fürchte, das werden wir erst erfahren, wenn unsere Zeit gekommen ist, und ich hoffe, dieser Tag liegt noch in weiter Ferne. Vater interessierte sich jedenfalls vor allem für die Frage, was unmittelbar nach der Auflösung des Jal mit den Seelen der Toten geschah.«
Die Erben rissen neugierig die Augen auf, und selbst Guederic richtete sich auf seiner Pritsche auf.
» Meine Mutter hätte das Ende des Dara beinahe nicht überlebt«, fuhr Damián fort. » Später, lange nach der Schreckensnacht in Agénors Palast, kehrten einige Erinnerungen daran zurück. Eryne sagte, sie hätte den Eindruck gehabt, die Welt um sie herum würde zersplittern. All die Seelen, aus denen Götter und Dämonen zuvor ihre Kraft geschöpft hatten, waren plötzlich frei, denn als sie das Dara erreichten, mussten sie feststellen, dass es nicht mehr existierte. Daraufhin brach unter den Seelen Panik aus. Manche stürzten sich ins Karu, aber auch die Dämonen waren verschwunden. Das gesamte Jal hatte sich aufgelöst. Einige Seelen stiegen zu den Sternen auf, weil diese nach ihnen zu rufen schienen, und wieder andere kehrten in die Welt der Menschen zurück …«
Guederic war von diesem Bericht seltsam berührt. Ob es daran lag, dass er von seiner geliebten Mutter Eryne stammte? Ihm war fast so, als wäre er selbst dabei gewesen … Doch auch die anderen waren völlig fasziniert von Damiáns Schilderung.
Es war etwas ganz anderes, zu erfahren, wie seine Mutter die Auflösung des Jal erlebt hatte, als allgemein über die Kinderstube der Götter und Dämonen zu sprechen.
» Wie mag eine Seele, die sich durch die Welt bewegt, wohl aussehen?«, fragte Maara nachdenklich. Zur Abwechslung war ihr Tonfall einmal nicht spöttisch.
» Eryne nahm sie als eine Art Lichtstrahl wahr, der sich jedoch nicht gerade, sondern schlängelnd durch den Raum bewegt«, antwortete Damián.
» In Wallos hat niemand etwas Derartiges gesehen«, erwiderte Maara. » Sonst würden die Menschen noch heute davon sprechen.«
» Natürlich nicht. Die Lichter waren für die Menschen unsichtbar.«
» Aber wie hat Amanón dann herausfinden können, was aus ihnen geworden ist? Das widerspricht sich doch!«
» Du hast Recht. Niemand weiß genau, was mit den Seelen der Sterblichen geschah. Aber Vater hat sich auch eher für die Seelen der Unsterblichen interessiert.«
Guederic kannte seinen Bruder und wusste, dass er geistige Herausforderungen liebte. Die Erörterung dieser Fragen musste ihm große Freude bereiten. Beim Sprechen strich Damián immer wieder über den Einband des Manuskripts, und ein Lesezeichen markierte die Stelle, an der er mit der Transkription aufgehört hatte. Bestimmt brannte er darauf, mit der Arbeit weiterzumachen.
» Die Seelen der Unsterblichen?«, fragte Lorilis verwundert.
» Ja, warum nicht? Die Sirenenkönigin hatte schließlich auch eine Seele, ebenso wie ihr Bruder Nol. Dasselbe gilt vermutlich für andere Götter. Und die Wächterin des Karu verriet uns auch, wie es dazu kam. Diese Information hatte mein Vater nicht: Unsterbliche, deren Eltern Menschen waren, hatten eine Seele, und solche, die einzig durch Gebete entstanden waren, hatten keine. Die Nachkommen von Menschen waren sozusagen Götter und Dämonen einer höheren Art, und sie verschwanden mit der Auflösung des Jal nicht einfach. Als unsere Eltern und Großeltern das Jal verleugneten, fühlten sich diese Unsterblichen ebenso verloren wie die sterblichen Seelen, die nun vergeblich nach dem Dara oder Karu suchten. Vielleicht war die Erfahrung für sie sogar noch schlimmer, denn ohne ihre unsterblichen Brüder und
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