Die Götter - Die Macht der Dunkelheit - Grimbert, P: Götter - Die Macht der Dunkelheit - Les Gardiens de Ji, Tome 3: Le deuil écarlate
meine Mutter gekannt«, murmelte Najel traurig. » Und was Saat angeht … Ich kann mich nicht an den Gedanken gewöhnen, dass er mein Großvater ist. Wie wird unsere Reise wohl enden? Wenn ich darüber nachdenke, habe ich Angst. Außerdem fehlt mir mein Vater«, gestand er verlegen.
Gerührt von seiner Verletzlichkeit, die er sonst meistens verbarg, legte Lorilis ihm einen Arm um die Schultern und gab ihm einen langen Kuss. Najel gab sich der Berührung hin, doch selbst ihre Zärtlichkeit schien ihn nicht trösten zu können. Damit wollte sich Lorilis nicht abfinden. Seit ihrer ersten Begegnung hatte der Junge so viel für sie getan. Er hatte ihr mehrmals das Leben gerettet; er hatte ihre Geheimnisse gewahrt, wenn sie ihn darum gebeten hatte – er hatte sich sogar von Usul verschleppen lassen, um sie zu beschützen! Wie konnte sie ihm ihre Dankbarkeit besser zeigen, als durch den Versuch, die Qualen zu lindern, die Usuls Prophezeiungen ihm bereiteten?
» Gib mir deine Hände«, forderte sie ihn auf.
» Warum? Willst du mir meine Zukunft voraussagen?«, scherzte er.
Doch als ihm aufging, dass Lorilis es ernst meinte, verschwand sein Lächeln. Sie war entschlossen, ihrem Freund etwas Gutes zu tun, auch wenn sie damit gegen Zejabels Regeln verstieß. Diesen Gedanken schob Lorilis rasch beiseite. Sie ergriff Najels ausgestreckte Hände und konzentrierte sich auf die Energieströme, welche die Welt zusammenhielten. Die Ströme, die von Najel ausgingen, fühlten sich warm und weich an, wie der flauschige Bauch einer Katze. Lorilis schwelgte eine Weile in diesem wunderschönen Bild, das ihren Entschluss noch festigte.
Sie vertiefte sich weiter in die Wahrnehmung der Energieströme und arbeitete sich zu jenen vor, die die Vergangenheit und die Zukunft darstellten. Letztere verästelten sich zu unendlich vielen Möglichkeiten. Lorilis war kurz versucht, mit etwas Einfachem zu beginnen, zum Beispiel in der Erinnerung des Jungen zu stöbern, aber das wäre anmaßend gewesen. Najel musste selbst entscheiden, was er ihr anvertrauen wollte und was nicht. Aufgeregt machte sie sich daran, etwas völlig Neues auszuprobieren, nämlich die Zukunft zu erforschen. Besser gesagt, die verschiedenen Möglichkeiten der Zukunft, auf die sich Najel zubewegte.
Es gab Hunderte davon, und Lorilis hätte sicher noch mehr dieser hauchdünnen Fäden gesehen, wenn sie sich noch stärker konzentriert hätte. Die Wege in die Zukunft, die sich mit allergrößter Wahrscheinlichkeit erfüllen würden, stachen deutlich hervor: Sie strahlten heller als die anderen. Und einer dieser Energieströme war die Zukunft. Lorilis wünschte sich nichts sehnlicher, als Najel etwas Mut machen zu können …
Vorsichtig bewegte sie sich an einer der Lichtbahnen entlang. Zejabels Übungen hatten sie gelehrt, ihre Kräfte zu kontrollieren und mit ihrem Körper oder Geist auf die Energieströme einzuwirken. Natürlich musste sie noch viel lernen und würde in nächster Zeit gewiss noch große Fortschritte machen. Aber sie war sich ihrer Sache immerhin so sicher, dass sie nicht fürchtete, sich oder Najel in Gefahr zu bringen.
Bald geriet Lorilis in eine Art Rausch. War es der Reiz des Neuen? Die Aufregung über den schnelle Erfolg? Oder eine Begleiterscheinung ihrer magischen Kräfte? Es war ohnehin bereits zu spät, sich darüber Gedanken zu machen. Unmerklich war Lorilis in einen anderen Bewusstseinszustand hinübergeglitten. So bewegte sie sich immer weiter auf die Zukunft zu, berauscht von der Bilderflut, die auf sie einstürzte.
Die Bilder waren recht unscharf, und der Lichtstrahl wies in unregelmäßigen Abständen eine Art Knoten auf, von dem jeweils unzählige weitere Strahlen abzweigten. Was für eine Enttäuschung: Die Wege in die Zukunft waren unendlich, und Lorilis sah ein, dass sie auf dieser geistigen Reise nichts Brauchbares erfahren würde. Dabei hatte sie so sehr gehofft, Najel helfen zu können. Trotzdem machte sie weiter, getrieben von Neugier und dem Rausch, der sie erfasst hatte. Wahllos folgte sie dieser oder jener Abzweigung. Manche der Bilder waren wunderschön: Najel und Lorilis kamen einander immer näher, und ihre Zuneigung und Freundschaft entwickelte sich zu einer leidenschaftlichen Liebe. Doch je weiter Lorilis vordrang, desto schrecklicher wurden die Bilder: Die Erben irrten viele Monde lang vergeblich durch das Rideau-Gebirge und litten Hunger, Kälte und Erschöpfung. Dann brach unter ihnen Streit aus, und schließlich stürzten
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