Die Götter - Ruf der Krieger - Grimbert, P: Götter - Ruf der Krieger - Les Gardiens de Ji, Tome 1: La volonté du démon
Bretterbuden und Zelten, und am Pier lagen elegante Gondeln neben verwitterten Fischkuttern vor Anker. Manche Boote waren offensichtlich schon seit Jahren nicht mehr seetüchtig.
Lorilis betrachtete ihre Umgebung mit einer Mischung aus Schrecken und Faszination. Sie befand sich in einer fremden Stadt, weit entfernt von allem, was sie kannte, den freundlichen Umgangsformen des Matriarchats, dem
Schutz der Ratsfrauen und der Liebe ihrer Eltern. Bald würde sie auch den alten Mann verlassen müssen, der sie nach Benelia gebracht hatte. Anfangs mochte sie sich vor ihm gefürchtet haben, aber nun war er der letzte Mensch, der sie mit ihrem alten Leben verband – und sie kannte nicht einmal seinen Namen.
Ihre Anspannung stieg, während der Alte das Boot zwischen den am Pier liegenden Schiffen hindurchmanövrierte. Lorilis musterte die Menschen, die sich auf den Anlegestegen tummelten. Irgendeiner von ihnen war hier, um sie in Empfang zu nehmen, zumindest hatte ihr Vater das geschrieben. Ratsfrau Izaelle hatte versprochen, ihren Eltern eine Brieftaube zu schicken, um sie wissen zu lassen, dass Lorilis unterwegs war. Hoffentlich hatten Niss und Cael die Nachricht bekommen … Und hoffentlich hatten sie der Person, die sie abholen sollte, noch Bescheid geben können, denn sonst würde sich Lorilis mutterseelenallein bei Nacht in einem fremden Hafen wiederfinden.
Insgeheim hoffte sie immer noch, von jemandem abgeholt zu werden, den sie kannte, zum Beispiel von ihrer Großmutter Léti.
Als ein Mann ihnen vom einem der Anlegestege aus ein Zeichen gab, platzte der schöne Traum. Lorilis hatte ihn noch nie im Leben gesehen. Seine graue Uniform und der lange Umhang, den er darüber trug, verliehen ihm ein düsteres Aussehen. Dass der Bootsführer den Mann misstrauisch musterte, machte die Sache nicht besser, doch da der Fremde ganz offensichtlich sie meinte, steuerte der Kaulaner schließlich an den Steg heran.
Der Mann mit dem grauen Umhang sprang an Bord,
noch bevor der Alte die Leinen festgemacht hatte. Lorilis warf ihrem Begleiter einen besorgten Blick zu und wusste nicht, wie sie sich verhalten sollte. Der Mann schien nichts von all dem zu bemerken, und wenn doch, kümmerte es ihn nicht. Zielstrebig schnappte er sich Lorilis Bündel, warf es auf den Steg und kletterte hinterher. Dann wandte er sich um und streckte ihr die Hand hin.
»Aber …? Was …? Wer …?«, stammelte sie verwirrt.
»Du bist doch Lorilis, oder?«, blaffte der Fremde. »Wir müssen los! Beeil dich!«
Der alte Kaulaner stieß einige unverständliche Laute aus, die den Fremden vermutlich zu einem höflicheren Umgangston bewegen sollten, aber dieser beachtete ihn gar nicht. Lorilis wusste nicht mehr ein noch aus. Tränen schossen ihr in die Augen. Hier in Benelia wurde sie nicht mit dem Respekt behandelt, den sie aus dem Matriarchat gewohnt war – für den Mann war sie nur eine Vierzehnjährige, der er wegen einer Laune des Schicksals Geleitschutz geben musste. Woher kannten Niss und Cael überhaupt einen solchen Rüpel? Und wie konnten sie so jemandem das Leben ihrer einzigen Tochter anvertrauen?
»Komm schon«, drängte der Mann in der grauen Uniform. »Bist du schwer von Begriff oder was?«
Aus Trotz, aber auch aus Angst ließ sie sich wieder auf die Holzbank fallen. Ein entsetzlicher Gedanke schoss ihr durch den Kopf: Wer sagte eigentlich, dass ihre Eltern den Mann geschickt hatten? Vielleicht war er ja gerade derjenige, vor dem sie sie beschützen wollten …
Sie maßen sich eine Weile mit stummen Blicken, bevor der Mann einen Fluch ausstieß und in seinen Taschen zu
wühlen begann. Bevor sie sich ausmalen konnte, was für eine Waffen er ziehen würde, hielt er ihr die offene Handfläche hin und schnauzte: »Hier! Können wir jetzt endlich los?«
Fassungslos starrte das Mädchen auf den Gegenstand, den er ihr hinhielt, einen Edelstein von der Größe einer Gewürznuss. Sie erkannte sofort, worum es sich handelte: ein Gwelom!
Lorilis riss die Augen auf. Seit ihrer frühesten Kindheit war sie fasziniert von diesen Steinen, die extrem selten waren und in keiner bekannten geologischen Abhandlung erwähnt wurden. Trotzdem besaßen all ihre Verwandten einen oder mehrere dieser Steine: Corenn, Grigán und sogar ihre Cousins aus Arkarien. Sie waren so etwas wie das Familienheiligtum, ein Geheimnis, das sie sorgsam hüteten. Dabei hätten die Steine sie reich machen können, denn sie hatten eine erstaunliche, beinahe magische Eigenschaft.
Lorilis
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