Die Götter - Ruf der Krieger - Grimbert, P: Götter - Ruf der Krieger - Les Gardiens de Ji, Tome 1: La volonté du démon
den Strich gehen, auch wenn dieser Legionär ein Schwachkopf war, der seine Familie beleidigt hatte.
Guederic hatte keine Lust, sich von seinem Bruder dafür beschimpfen lassen, dass er die Familienehre verteidigt hatte. Sollte Damián ihn doch suchen – in der Zwischenzeit hatte er alle Hände voll zu tun: Er musste fünfzig Betten beziehen, Essen austeilen und mit den Kindern Ball spielen. Nichts war in diesem Moment wichtiger.
Schließlich stand die Welt nicht kurz vor dem Untergang.
Den ganzen Tag war das Boot wie ein totes Stück Holz den Fluss hinuntergetrieben. Die Zeit schien stillzustehen, und noch nie waren ein paar Dekanten Lorilis so endlos vorgekommen. Die Angst um ihre Eltern und ihre eigene Hilflosigkeit ließen ihr keine Ruhe. Einmal machten sie kurz Halt, um sich die Beine zu vertreten, doch die restliche Zeit saß sie auf der harten Ruderbank und starrte auf den Horizont, der niemals näher kam.
Der alte Kaulaner, der an den Rudern saß, nahm seine Aufgabe, sie sicher nach Benelia zu geleiten, sehr ernst. Er hielt sich immer in der Mitte des Flusses, damit niemand sie vom Ufer aus angreifen konnte, und selbst das karge Mit-Tags-Mahl, ein Kanten Brot und etwas Käse, nahmen sie auf dem Wasser ein. Da Lorilis vor Beklemmung kaum etwas herunterbekam, verfütterte sie die Hälfte des Brots an ein paar Enten.
Immerhin wusste sie mittlerweile, warum der Bootsführer bei der Abfahrt so schweigsam gewesen war. Er litt an einer Krankheit, die ihm das Sprechen fast unmöglich machte. Die wenigen Worte, die er im Laufe des Tages hervorgebracht hatte, waren nahezu unverständlich
gewesen. Nicht einmal seinen Namen hatte sie verstehen können. Fortan hatte Lorilis darauf verzichtet, ihm überflüssige Fragen zu stellen, und nachdem sie eine Weile versucht hatte, ein recht einseitiges Gespräch zu führen, war sie irgendwann verstummt.
Nun betrachtete sie gedankenverloren die vorbeiziehende Landschaft. Mit seinen Feldern und Dörfern erinnerte dieser Teil von Lorelien an das Matriarchat, und Lorilis hätte nicht sagen können, wann sie die Grenze überquert hatten. Sie kamen an Bauernhöfen, Windmühlen und Burgen vorbei, und am Ufer wuchsen Birken, Edelweiden und buschige Grulen.
Allmählich begann sich die Umgebung zu verändern. Je näher sie Benelia kamen, desto größer wurden die Dörfer, und es gab mehr und mehr Anzeichen menschlichen Lebens. Auch begegneten ihnen immer häufiger andere Boote. Der Handel war einer der wichtigsten Wirtschaftszweige des Königreichs Lorelien, und auf dem ruhigen Gewässer fuhren immer wieder schwer beladene Frachtkähne an ihnen vorbei. Plattbodenboote, Jollen, Schoner, Kutter und Segelschiffe aller Größen transportierten Waren flussaufwärts zu den Städten Le Pont oder Semilia, nach Arkarien oder ins romische Königreich. Andere kehrten aus dem Norden zurück und waren mit Bier aus Cyr-la-Haute, Milo, Qinga, Eisenerz oder gepökeltem Rotschweinfleisch beladen.
All das wusste Lorilis dank ihrer Ausbildung, aber zum ersten Mal sah sie das Wasserballett mit eigenen Augen. Manche Schiffe waren so groß, dass sie aufpassen mussten, ihnen nicht zu nahe zu kommen. Die Wellen, die sie verursachten, brachten ihren Kahn heftig zum Schaukeln.
Zum Glück war ihr Begleiter ein erfahrener Bootsführer und bewahrte sie ein ums andere Mal vor dem Kentern. Einmal wären sie fast mit einem jezebischen Kutter zusammengestoßen, und die Seeleute beschimpften sie wüst. Eigentlich war der Vorfall nicht weiter schlimm, aber er erinnerte Lorilis daran, dass sie weit weg von zu Hause in einem fremden Land war – und dass die Menschen sehr bösartig sein konnten.
Es war der Beginn der Jahreszeit des Wassers, und die Tage waren noch schön, auch wenn es früh dunkel wurde. Als Benelia endlich in Sicht kam, stand die Sonne tief am Himmel. Im schwindenden Tageslicht betrachtete Lorilis die vor ihr aufragenden Mauern und Türme. Die Stadt war genauso alt wie Lorelia auf der anderen Seite des Flusses und einst sogar lorelische Hauptstadt gewesen. Lorelia hatte ihr diesen Titel streitig gemacht, nachdem es durch den Handel mit den Unteren Königreichen reich geworden war. Trotzdem war Benelia prächtig anzusehen: Zahlreiche Paläste zeugten von der einstigen Größe der Stadt.
Allerdings herrschte in manchen Vierteln große Armut. Das Nebeneinander von Arm und Reich war schon im Hafen zu beobachten: Nur wenige Schritte von jahrhundertealten Prachtbauten entfernt hausten Menschen in
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