Die Göttin der kleinen Siege
Männer kamen heraus, einer davon war erleichtert. Einstein nahm mich am Ellbogen, bevor ich noch nach dem Grund für ihre Fröhlichkeit fragen konnte.
„Schnell raus aus dem Tempel des Gesetzes und rein in den Tempel des Leibeswohls! Habe ich einen Hunger, verdammt!“
Als wir zum Aufzug gingen, kam ein Mann und bat Einstein um ein Autogramm. Man konnte nur selten mit Albert spazieren gehen, ohne auf diese Art und Weise belästigt zu werden. Albert kam der Bitte bereitwillig nach, gab dem Störenfried aber zu verstehen, dass er sich nicht aufhalten lassen wollte.
„Es muss fürchterlich sein, von so vielen Leuten verfolgt zu werden.“
„Das sind die letzten Reste der Menschenfresserei, mein lieber Oskar. Früher war man begierig auf Ihr Blut, nun will man Ihre Tinte. In beiden Fällen will man sich den Geist des Gefressenen aneignen. Retten wir uns, bevor man mir noch das Hemd vom Leib reißt!“
Als wir in der Aufzugskabine allein waren, strich ich Albert mit meiner behandschuhten Hand die Haare glatt.
„Davon habe ich immer geträumt.“
„Adele Gödel, ich könnte Sie verhaften lassen wegen dieser unzüchtigen Handlung!“
„Das wäre mein erster Gesetzesverstoß als amerikanische Staatsbürgerin, Herr Professor!“
Auf der Rückfahrt war die Stimmung entspannter. Sogar Kurt lächelte breit.
„Was ist denn nun in diesem Büro geschehen?“
„Wie wir befürchtet hatten, ist Ihr Mann auch gleich ins Fettnäpfchen getreten.“
Der Richter hatte ihn zunächst nach seiner Herkunft gefragt. Kurt hatte eine Falle gefürchtet und angegeben: „Österreich“, jedoch in vorsichtig fragendem Ton. Daraufhin war er vom Richter zur österreichischen Regierung befragt worden. Kurt hatte ihm erläutert, was er für die exakte Wahrheit hielt: Aufgrund einer Schwäche in der Verfassung hatte sich unsere Republik in eine Diktatur verwandelt. Der gutmütige Forman hatte ausgerufen: „Wie auch immer, der gemeine ‚Führer‘! Aber zum Glück ist so etwas in Amerika nicht möglich.“ Völlig arglos hatte mein naiver Mann dem Richter widersprochen: „Ganz im Gegenteil, Sir, ich weiß, wie das hier passieren kann.“
Kurts Liebe zu logischen Beweisen war grenzenlos. Zu seiner Entlastung muss man allerdings sagen, dass der Richter ihm von allen möglichen Fragen in aller Unschuld die gefährlichste gestellt hatte. Kurt hatte nicht gewusst, wie er sie beantworten sollte, ohne ganz aufrichtig zu sein. Einstein und Morgenstern waren entsetzt gewesen, aber Forman war klug genug, die Diskussion nicht zu entfachen. Die beiden Kollegen hatten bei ihrer Ehre bezeugt, dass Mister Gödel ein Mann von großem Wert für die Nation sei, ein guter, gesetzestreuer Bürger.
Den Rest der Fahrt verbrachten wir lachend und überlegten, worin Kurt zumindest ein Mal in seinem Leben über die Stränge schlagen könnte, es sei denn, es ging um mathematische Vorurteile.
An der Ecke zur Mercer Street fragte Morgenstern den Professor, ob er ihn zu Hause absetzen oder ihn ins Institut fahren solle. Einstein brummelte, es sei ihm egal. Mich beunruhigte diese ungewohnte Verdrossenheit, er sah angespannt aus und hatte Kurt auf der ganzen Fahrt kaum gefoppt.
„Geht es Ihnen gut, Professor?“
„Es war vielleicht zu viel Politik.“
„Gewiss, mein lieber Oskar. Und zu wenig Physik. Pazifist zu sein ist ein harter Kampf. Und wir kämpfen nicht Seite an Seite. Die bitteren Lektionen der Vergangenheit müssen unablässig von Neuem gelernt werden.“
„Ich sichere lieber die Zukunft.“
„Ich habe zwei große Kriege erlebt. Es ermüdet mich, mich vor einem neuen zu fürchten. Ich weiß nicht, wie der Dritte Weltkrieg ausgehen wird, aber ich bin sicher, dass es danach nicht mehr sehr viele Menschen geben wird, die einen vierten erleben könnten.“
Er stieg aus und klopfte ans Rückfenster des Wagens.
„Meine Glückwünsche zur bestandenen vorletzten Prüfung!“
„Gibt es denn noch eine?“
„Die letzte wird sein, ins Grab zu steigen, Gödel.“
Er verschwand in dem weißen Häuschen, ohne sich von uns zu verabschieden.
„Was meint er denn damit?“
„Das ist nur ein Scherz, Kurt.“
„So deprimiert habe ich ihn noch nie erlebt.“
„Er widmet seinem Komitee zu viel Zeit. Letztes Jahr hat er zusammen mit Leó Szilárd das Emergency Committee of Atomic Scientists gegründet, das der Öffentlichkeit die Gefahren von Nuklearwaffen ins Bewusstsein rufen will. Die Gruppe aus acht Wissenschaftlern, die direkt oder
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