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Die Göttin der kleinen Siege

Die Göttin der kleinen Siege

Titel: Die Göttin der kleinen Siege Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yannick Grannec
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löchriges Wissen hin. Solche Dinge konnte ich nur wenige Wochen im Gedächtnis behalten, denn ich stopfte mein Gehirn nicht gern mit sinnlosem Zeug voll, wohingegen Kurt schon von der Wiege an gebüffelt hatte. Albert kam mir zu Hilfe.
    „Warum sind die Pilgerväter aus Europa geflohen?“
    „Wegen der Steuern?“
    „Durchaus möglich. Aber vor der englischen Küche hätte auch ich Reißaus genommen!“
    „Damit sie ihre Religion frei ausüben konnten. Ihr habt wirklich vor nichts Respekt!!
    „Jetzt seien Sie nicht so puritanisch, mein Freund, Sie sind doch noch gar kein Amerikaner!“
    Albert fragte Kurt nach den Grundzügen der Unabhängigkeitserklärung. Kurt hatte den ganzen Text auswendig gelernt und mir seine ganze Schönheit besungen! Ich hingegen wurde über die Grundrechte abgefragt, die die Verfassung garantierte: Meinungs-, Religions-, Versammlungsfreiheit – Werte, die wir in den schwarzen Jahren in Wien vergessen hatten. Dennoch hatte ich seit unserer Ankunft hier keinen Gebrauch von diesen Freiheiten gemacht, nicht einmal von dem exotischsten Recht, nämlich eine Waffe zu besitzen.
    „Wie oft kann ein Senator wiedergewählt werden?“
    „Bis zu seiner Mumifizierung?“
    „Ganz genau. Aber achten Sie auf die Formulierung, Adele.“
    „Noch eine letzte Frage auf dem Weg: Wo befindet sich das Weiße Haus?“
    „In Washington DC, Pennsylvania Avenue 1600.“
    „Sie sind eine Katastrophe auf zwei Beinen, Gödel! Mein nächstes Geschenk an Sie wird ein Maulkorb sein.“
    „Ich weiß nicht so viel.“
    „Keine Sorge – heute Abend werden Sie Amerikanerin sein.“
    Amerikanerin! Wer hätte gedacht, dass ich einmal auf meine Nationalität, meine Sprache, meine Erinnerungen verzichten und bei den Behörden betteln würde, einem anderen Land angehören zu dürfen? Ich sah die schmucken Straßen von Princeton vorüberziehen und dachte an die Straßen, durch die ich sieben Monate lang in einem todgeweihten Europa gegangen war.
     
    Ich war hin und her geeilt, um meine Familie zu besuchen und Kurts Familie seines Wohlbefindens zu versichern. Ich unterstützte sie, so weit es unsere Mittel zuließen.
    Ich klingelte bei Liesas Eltern – ihr Vater erkannte mich nicht. Er behauptete, überhaupt keine Tochter zu haben, doch gegen ein paar Dollar konnte er sich wieder erinnern. Liesa hatte sich an einen Nazioffizier gehängt und war im Kielwasser der deutschen Truppen aus Wien geflohen. Seine Hure von Tochter war wahrscheinlich in einem Graben geendet, mit den Beinen in der Luft, so wie sie auch den Großteil ihres Lebens verbracht hatte. Ohne mir Illusionen zu machen, nahm ich ein Taxi nach Purkersdorf. Das Sanatorium war nicht zerstört worden, und der Krieg hatte eine neue Welle geistig Umnachteter hineingespült. Die Überlebenden des Personals hatten von Anna nichts mehr gehört, seit sie zu ihrem Sohn aufs Land gefahren war, und keiner kannte ihre Adresse. Ich wandte mich ans Rote Kreuz und an die amerikanischen Hilfsdienste – alles vergebens. Auf den Ämtern herrschte ein grauenvolles Chaos. Wen kümmerten schon eine kleine Tänzerin und eine rothaarige Krankenschwester, während Hunderttausende um ihre Vermissten trauerten? Ich zündete für Liesa und Anna zwei Kerzen in der Peterskirche an. Der Nachtfalter , der gegenüber lag, war noch immer geöffnet, nun verkehrten dort GIs, die sich vergnügen wollten, und andere Tänzerinnen versuchten ihr Glück. Liesa hatte aufs falsche Pferd gesetzt – und Anna hatte sowieso nie etwas gehabt, auf das sie hätte bauen können.
    Im Zuge des Verkaufs unserer Wiener Wohnung musste ich auch Entschädigungszahlungen für die Villa in Brünn beantragen, die während des Krieges beschlagnahmt worden war – ein weiteres behördliches Geduldsspiel. Nach den Jahren meines angsterfüllten privaten Rückzugs belebten mich diese Aktivitäten wieder, aber die Not meiner Landsleute schmerzte mich beständig. Wien war von den Bomben der Alliierten zerstört worden, auch die Innenstadt, die Oper war abgebrannt. Im April 1945 waren die Sowjets einmarschiert und hatten eine Orgie der Gewalt gefeiert: Vergewaltigungen, Brandschatzungen, Plünderungen. In Ermangelung einer wie auch immer gearteten Ordnungsmacht hatte die daniederliegende Stadt – es gab kein Wasser, keinen Strom, keinen Brennstoff – kurz darauf eine zweite Welle der Verwüstung über sich ergehen lassen müssen, dieses Mal von den eigenen Leuten. Nach der Roten Armee waren die amerikanischen

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