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Die Göttin der kleinen Siege

Die Göttin der kleinen Siege

Titel: Die Göttin der kleinen Siege Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yannick Grannec
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Sparsamkeitsprinzip in der Theoriebildung, das nach dem mittelalterlichen Scholastiker Wilhelm von Ockham benannt ist und mit dem alles Überflüssige gekappt werden soll: Die einfachste Erklärung, die mit den wenigsten Variablen auskommt, ist immer allen anderen vorzuziehen.“
    „Mathematische Eleganz geht über Einfachheit hinaus. Sonst hätte diese Vorstellung den Makel der Unterwerfung unter die Komplexität der Welt. Mein Mann erkannte und suchte eine Form der Schönheit, die sich mir entzog. Er wandte beträchtliche Energie auf, um Beweise zu führen, bei denen alles über das Allgemeinverständliche hinaus begründet sein musste. Seine Freunde lachten ihn manchmal aus, seine Kollegen kanzelten ihn ab. Mit seinen Veröffentlichungen war er grundsätzlich spät dran, er schrieb immer noch eine Anmerkung zur Anmerkung zur Anmerkung. Er hatte Angst, missverstanden zu werden oder als verrückt zu gelten. Was am Ende ja dann auch so kam …“
    „Warum geben Sie mir die Papiere nicht, wenn das so ist? Wir würden seinem Werk Ehre erweisen. Sie haben mittlerweile doch Vertrauen zu mir, Sie wissen, dass ich Sie nicht manipulieren will.“
    „Ich werde darüber nachdenken.“
    Anna lächelte sie an – nun kannte sie die Gebrauchsanweisung.
    „Seien Sie also elegant, Adele!“
    „Ich habe einen anderen Begriff von moralischer Eleganz.“
    „Nach Ockhams Prinzip haben Sie die Dokumente nicht mehr, weil Sie sie weggeworfen haben.“
    „Falsch! Ich will sie Ihnen eben ganz einfach nicht geben.“
    Die alte Dame streckte sich und ließ die Fingergelenke knacken. Anna irritierte dieses Geräusch, aber sie ließ nicht locker. Eine solche Gelegenheit würde sich vielleicht nie mehr bieten.
    „Sie wollen gewisse persönliche Erinnerungen also nicht öffentlich machen?“
    Adele sah sie an, ohne zu blinzeln – sie wäre mitnichten verpflichtet, es zuzugeben. Sie würde die Bosheit ihrer Schwiegerfamilie nicht der Nachwelt hinterlassen, auf dass diese darauf herumhacken könnte. Adele hatte sich das Recht auf ihre Verbitterung erworben.
    „Die geistige Verwirrung meines Mannes ist allgemein bekannt. Eine posthume Erniedrigung fürchte ich nicht. Hören Sie endlich auf, auf den Busch zu klopfen!“
    „Und dieser berühmte Ontologische Beweis ? Eine logische Folge, mit der Gott definiert und dadurch seine Existenz deduziert werden soll. Nach meinen Recherchen kursierte er in Princeton, wurde aber nicht veröffentlicht. Gibt es ihn wirklich?“
    „Ha, da haben wir’s! Hat Kurt Gödel die Existenz Gottes bewiesen? Ich habe mich schon gefragt, wie lange Sie brauchen, um an diesen Punkt zu kommen. Mein naher Tod brennt Ihnen auf den Nägeln, Fräulein Maria!“
    „Sind Sie gläubig, Adele?“
    „Ich glaube an das Göttliche. Und Sie?“
    Anna sah am Rand ihrer Gedanken die Worte von Leonard Cohen vorbeiflattern, Your faith was strong but you needed proof – „Dein Glaube war stark, aber du brauchtest einen Beweis.“ Die junge Frau hatte darauf keine ernsthafte Antwort. Ihre Eltern trugen einen damals angesagten Atheismus vor sich her, nachdem sie mit dem Silberlöffel im Mund aufgewachsen waren. Ihre Großmutter war zwar nicht oft in die Synagoge gegangen, aber sie hatte die religiösen Bräuche geachtet. Anna hatte diese feierlichen und doch fröhlichen Feste geliebt, vor allem das Laubhüttenfest. Josepha hatte immer eine bunte Sukka errichtet, indem sie mitten im Wohnzimmer Schals und Tücher aufgehängt hatte. Das Kind hatte dann in den noch immer vollen Koffern auf dem Speicher wühlen und die Hütte nach seinem Geschmack schmücken dürfen. Ob Gott damit etwas zu tun hatte – darüber hatte sie kaum je nachgedacht. Durch Rachel war ihrer kindlichen Metaphysik mit einem banalen „Nach dem Tod kehren die Atome in den großen Kreislauf zurück“ ein Ende gesetzt worden. Anna hatte aber nachgefragt: Warum müsste sie als Baum oder als Lampenmast wiedergeboren werden? Warum käme sie nicht in ihrer eigenen Gestalt zurück? Wenn schon, denn schon! Rachel war gleich zu ihrem Mann gerannt und hatte ihm diese süße Unbedarftheit berichtet, George wiederum hatte sich damit begnügt, der Frage auszuweichen. „Ich weiß es nicht, Anna. Wie denkst du darüber?“ Sie dachte gar nichts darüber. Von unten gesehen, kam ihr die Welt ohnehin schon unerklärlich genug vor, als dass ihre Eltern ihr noch eine weitere Schicht Unsicherheit hinzufügen mussten. Anna war herangewachsen und dabei dieser Frage aus dem Weg

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