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Die Göttin der kleinen Siege

Die Göttin der kleinen Siege

Titel: Die Göttin der kleinen Siege Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yannick Grannec
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Streitkräfte gekommen und stritten sich nun um die letzten Fetzen meiner ausgebluteten Stadt.
    Einstein hatte recht: Die Welt von Gestern , wie das letzte autobiografische Werk seines Freundes Stefan Zweig heißt, die Welt, nach der ich Heimweh hatte, existierte nicht mehr. Was einer Heimat ähneln konnte, war für mich von nun an Amerika. Dennoch hatte ich Princeton in jenem Frühjahr mit der Absicht verlassen, nicht mehr zurückzukehren. Nach mir die Sintflut! Ich war Kurts unerträglichen Marotten müde. Ich hatte es satt, meine Matratze ganz unten in den Abgrund zu schleppen und dort darauf zu warten, dass er hineinfiel. Ich war erschöpft vor Einsamkeit und vom Exil – ich wollte nach Hause.
    Die theoretische Vorstellung von Freiheit ist wichtiger als ihr Gebrauch in der Praxis. In Amerika habe ich diese Lektion in gelebter Demokratie gelernt: Man soll den Menschen nicht die Wahl lassen, sondern ihnen eine Wahlmöglichkeit geben. Diese Option ist notwendig und vollkommen hinreichend. Nur wenige Menschen halten den Schwindel der reinen Freiheit aus. Indem Kurt mich hatte gehen lassen, hatte er dafür gesorgt, dass ich zurückkäme. Bei der Überfahrt wurde ich auf dem Deck der Marine Flasher wieder ich selbst, ich war weit weg von unserem Ehekloster. Die ersten Tage meiner Unabhängigkeit erlebte ich wie ein Unterpfand der Jugend. Ich war glücklich, so klein in all der Unermesslichkeit zu sein.
    Doch meine Gedanken wanderten schnell wieder zu Kurt. Er hätte auf dem Schiff vor Kälte geheult. Ich hätte alle herrenlosen Decken auf dem Sonnendeck einsammeln müssen. Er hätte das Essen verabscheut, er wäre vor den anderen Passagieren geflohen, die ihm zu schwatzhaft gewesen wären, während ich ihre Normalität erholsam fand. Doch dann kam die unvermeidliche Schlaflosigkeit vor Sorge. „Um diese Uhrzeit müsste er nach Hause kommen. Hat er etwas gegessen?“ Ich war noch nicht einmal in Bremen angelangt und gehörte schon nicht mehr mir selbst.
     
    Der Wagen hielt vor dem Sitz des Parlamentes von New Jersey. Das beeindruckende Gebäude war aus Stein und sah sehr nach „altem Europa“ aus. Über dieses Paradoxon hätte ich lächeln müssen, wenn meine Kehle nicht so zugeschnürt gewesen wäre. Kurt hatte mich mit seinen Ängsten angesteckt. Wir gingen hinauf zum Verhandlungssaal. Einige Leute warteten schon im Korridor. Jeder Anwärter musste allein mit dem Richter sprechen. Dieser kam heraus und begrüßte Albert Einstein – um den Mann, der als Nächster an der Reihe war, kümmerte er sich nicht.
    „Professor Einstein! Was verschafft uns die Ehre Ihres Besuchs?“
    „Judge Forman! So ein Zufall. Ich begleite meine Freunde Adele und Kurt Gödel zu ihrem Gespräch.“
    Der Richter schenkte uns nur einen Seitenblick.
    „Wie geht es Ihnen? Wir haben uns ja seit Ewigkeiten nicht mehr gesehen!“
    „Heutzutage vergeht die Zeit relativ schnell.“
    „Wer will anfangen?“
    Ich wich einen Schritt zurück – mit dieser wenig demokratischen Sonderbehandlung hatte ich nicht gerechnet.
    „Frauen und Kinder zuerst! Philip Forman hat mir 1940 selbst die Prüfung abgenommen. Sie sind bei ihm in guten Händen, Adele.“
    Als ich dem Beamten in sein Büro folgte, überkam mich heftiger Harndrang. Forman störte sich wohl weder an meinen krampfartigen Zuckungen noch an meinem noch immer katastrophalen Akzent, denn nach ein paar Minuten entließ er mich mit meiner wertvollen Beute. Er hatte es wohl eilig, mit Einstein zu diskutieren. Er hatte mir ganz einfache Fragen gestellt und nicht wirklich auf meine Antworten geachtet. Mit der vorläufigen Urkunde in der Hand ging ich zu meinem Grüppchen. Entgegen den Vorschriften schlug der Richter Albert und Oskar vor, ihn und Kurt zu begleiten. Er musste sich schwer langweilen – die Aussicht, ein paar Minuten mit unserem berühmten Gefährten zu verbringen, verhieß ihm einen strahlenden Tag.
    Die drei Männer verschwanden für eine ganze Weile. Ich drehte und wendete das Papier in der Hand. Ich hatte Angst, Kurt könne aus lauter logischer Präzision die Grenzen des Anstands überschreiten. Um mich herum unterhielten sich die Anwärter in Sprachen, die ich nicht verstand – ein bisschen Italienisch, Polnisch, so etwas wie Spanisch. Ich lächelte den künftigen Landsleuten meines neuen Vaterlands zu. Wovor waren sie geflohen? Was hatten sie zurückgelassen, um nun in Sonntagskleidern hier in diesem zugigen Flur zu sitzen?
    Endlich ging die Bürotür auf. Drei fidele

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