Die Göttin der kleinen Siege
indirekt am Manhattan-Projekt, also am Bau der ersten Atombombe beteiligt waren, spricht sich offen gegen die Entwicklung der Wasserstoffbombe aus. Ich respektiere seinen Pazifismus, aber die Büchse der Pandora ist nun einmal offen. Die Sowjets werden nicht so viele Skrupel haben. Und die USA sind interessiert daran, eine überlegene nukleare Abschreckungswaffe zu besitzen.“
„Oskar, der Krieg ist aus! Wir wollen nicht erneut in Angst und Schrecken leben.“
„Wir müssen ein ‚Gleichgewicht des Schreckens‘ finden.“
„Sie sind zu pessimistisch.“
„Ich bin realistisch, mein Freund. Als Logiker sollten Sie die Veränderungen in der Manifestation der Weltgeschichte analysieren. Das Mächtegleichgewicht hat sich weiterentwickelt.“
„Ich finde diese Aufrüstung und die Aggressivität gegen Russland in der momentanen Situation schädlich.“
„Nicht Russland, Gödel – die Sowjetunion! Nutzen Sie Ihren Frieden und machen Sie sich wieder an die Arbeit. All das wird Sie nicht oder nur mehr wenig betreffen.“
35.
„Mein Gott! Wo haben Sie denn diesen Putzfetzen her?“ Anna drehte sich im Kreis und ließ sich bewundern. Am Abend zuvor, nach der Rückkehr von ihrem kleinen Kinoausflug mit Adele, war sie voll angekleidet ins Bett gefallen. Wie gerädert war sie wieder aufgewacht, aber es hatte ihr gefallen, wieder einmal das Gefühl körperlicher Erschöpfung zu verspüren. Sie hatte sogar beschlossen, am Nachmittag joggen zu gehen. Nach einer heißen Dusche, einem starken Kaffee und zwei Alka-Seltzer hatte sie ein altes Sweatshirt mit dem Wappen der Universität Princeton angezogen, dessen Siebdruck-Streifen langsam verblassten. Sie wusste nicht, welcher zeitweilige Verlobte es in ihrem Schrank zurückgelassen hatte. Sicherlich nicht William. Nachdem Anna gegangen war, hatte er seine Sachen minutiös aussortiert und drei Koffer zu seinem Vater gebracht.
„Ihre sonstigen Klamotten sind mir fast lieber. Von schlichter Zurückhaltung zum Sich-Gehenlassen ist es nur ein kleiner Schritt. Auch wenn Ihre Mutter nicht oberflächlich war, hätte sie Ihnen das zumindest mit auf den Weg geben sollen.“
Anna fummelte am Ärmel ihres unförmigen Kleidungsstücks herum – sie war nicht ganz ehrlich mit Adele gewesen.
„Meine Mutter ist immer wie aus dem Ei gepellt. Ich habe ihre Eleganz nicht geerbt. Das hat sie mir schon oft vorgehalten.“
Adele ging nicht auf den Widerspruch ein. Vielleicht war sie nach dieser Spritztour geneigt, Anna für ihre früheren kleinen Lügen den Ablass zu erteilen.
„Ich kenne diesen Schlag von Frauen. Sie erlauben sich keine Improvisation.“
Für Zärtlichkeit hatte Rachel auch keinen Platz gelassen. Adele war sensibel genug, um dies zu verstehen, auch ohne dass Anna alle alten Akten hervorziehen musste. Sie begann, die unnachsichtige Einfühlsamkeit der alten Dame zu schätzen.
„Ich war auch nie besonders vornehm. Ich hatte nicht diesen bürgerlichen Anstrich. All dieser Mist mit dem richtigen Eindecken einer Tafel, die Konversation …“
„Auf den Fotos waren Sie aber doch so fesch.“
„Das altmodische Aussehen der Bilder täuscht, meine Hübsche. Wir waren nicht reich, ich musste mit ein paar Stoffresten zurechtkommen. Knöpfe habe ich wiederverwendet. Und ein hübsches Hütchen gab dem Ganzen Schwung. Wie schade, dass Frauen keine Hüte mehr tragen!“
„Eleganz ist keine Frage des Geldes.“
„Sondern von Selbstvertrauen. Und das bekommt man mit der Bildung. Für die Teegesellschaften von Princeton war ich nicht adäquat ausgestattet.“
„In Wissenschaftskreisen steht das nicht an erster Stelle.“
„Wie wahr! Ein Korb voller Schmutzwäsche! Albert sah immer so aus, als hätte er in seinen Kleidern geschlafen. Aber nicht mein Kurt! Ich habe Stunden darauf verwandt, seine Hemden zu bügeln. Sogar in seinen schlimmsten Zeiten war er tadellos gekleidet. Darauf habe ich immer geachtet. Eleganz war für ihn ein wichtiger Begriff, auf vielen Gebieten.“
„Ich war bei einer Tagung über ‚Mathematische Eleganz‘.“
„Aber sonst geht es Ihnen gut?“
Adele kratzte sich am Hinterkopf. Anna dachte kurz, sie würde ihr damit lediglich ihr Desinteresse an dem Thema bedeuten, aber die alte Dame überraschte sie: „Mathematische Eleganz – ein Begriff, der für uns arme Normalsterbliche unverständlich ist.“
„Ich meinte, dabei so etwas wie die Forderung nach Klarheit eines Beweises herauszuhören. Wie ‚Ockhams Rasiermesser‘, das
Weitere Kostenlose Bücher