Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Göttin der kleinen Siege

Die Göttin der kleinen Siege

Titel: Die Göttin der kleinen Siege Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yannick Grannec
Vom Netzwerk:
Streitereien beizulegen, Adele. Ihr Mann wird von bewundernswertem Ehrgeiz angetrieben, auch wenn dieser Ihrer Ansicht nach nicht rentabel ist. Er will das ‚Wesen der Zeit‘ mathematisch beweisen. Ich sehe darin nichts Kindisches.“
    Kitty war an kleine Auseinandersetzungen bei Tisch gewöhnt und übernahm es, das Gewitter auf sich zu ziehen.
    „Lieber Oskar, Sie erinnern mich an meinen Philosophieprofessor an der Sorbonne. Die Studenten nannten ihn ‚Kant-Kant-Codec‘. Er sah aus wie ein alter, gerupfter Hahn.“
    Lili kniff die Lippen zusammen, sogar Dorothy beherrschte sich zu lächeln, um ihren Mann nicht zu kränken. Selten hatte man Morgenstern so verletzt erlebt.
    „Ich dachte nicht an die Physik, Oskar. Unsere Gastgeber versuchen, den ehrwürdigen Streit zwischen Realphilosophen und Idealisten zu lösen, nicht wahr? 21 Gibt es eine objektive Existenz der Zeit?“
    Ich dankte Kitty mit einem diskreten Zwinkern. Wie gern wäre ich eine dieser Frauen gewesen und hätte fast ebenbürtig von Gleich zu Gleich diskutiert! Ich beobachtete sie und beneidete eine jede um einen bestimmten Wesenszug: Kitty, die spritzige kleine Brünette mit dem harten Blick und dem strahlenden Lächeln, mit all ihren Ehemännern, ihrem Studium, ihren Kindern und ihrer großzügigen Villa. Dorothy – jung, schön, unsterblich in ihre patrizierhafte Bohnenstange verliebt. Und meine süße Lili beneidete ich um ihre Kraft; meine Energie explodierte in bitteren Ausbrüchen, während Lili die Welt in den Armen wiegte.
    „Ich kann beweisen, dass die Zeit so wahrhaftig existiert wie die Gravität: Meine Lider werden schwer.“
    Oppenheimer nahm das Gesicht seiner Frau in die Hände und küsste nacheinander ihre Falten. Ich war gerührt von dieser spontanen Zärtlichkeit. Kurt waren Zurschaustellungen von Zuneigung peinlich, er hatte so etwas niemals in der Öffentlichkeit getan – und in der Zweisamkeit auch ziemlich selten. Er rief uns wieder zu größerem Ernst auf: „Dennoch halten bestimmte Philosophen dafür, dass die Zeit oder vielmehr ihr Vergehen eine Sinnestäuschung ist, die unserer Wahrnehmung geschuldet ist.“
    „Die Zeit ist zu Ihnen barmherziger, meine Herren. Das ist meine Relativitätstheorie.“
    „Das hat doch damit nichts zu tun, Adele! Die Spezielle Relativitätstheorie beweist, dass die Gleichzeitigkeit von Ereignissen relativ ist.“
    „Ich hingegen finde deinen Humor äußerst relativ, Darling.“
    Albert, der sich abmühte, seine Pfeife wieder anzuzünden, verschluckte sich an seinem Lachen.
    „Da irren Sie sich aber, Adele! Ihr Mann hat einen sehr subversiven Humor. Unter Ihrem Mäntelchen des Gentleman, mein Freund, sind Sie ein Anarchist. Klammheimlich deponieren Sie Ihre kleinen Bomben.“
    „Kurt kann keiner Fliege etwas zuleide tun.“
    „Folgen Sie seiner Argumentation: Wenn Sie zu einem bestimmten Moment in der Vergangenheit zurückgehen, sind die dazwischenliegenden Ereignisse nicht geschehen. Die Zeit ist noch nicht vergangen. Folglich gibt es keine ‚intuitive‘ Zeit. Einen Begriff wie die Zeit kann man nicht relativieren, ohne sie in ihrer ganzen Existenz zu zerstören. Gödel hat die große Uhr angegriffen! Den positivistischen Traum platzen zu lassen hat ihm nicht genügt!“
    „Heilige Jungfrau! Kann ich dich denn nicht eine einzige Minute allein lassen, Schatz?“
    „Wenn ich also in die Vergangenheit reisen und Hitler begegnen würde, wäre ich mir demnach nicht bewusst, dass ich dazwischenliegende Ereignisse erlebt habe, und würde nicht versuchen, sie zu verändern?“
    „Um ehrlich zu sein, meine kleine Lili, ich habe keinen blassen Schimmer! Vielleicht könnten wir ad vitam aeternam alle schönen Momente wiedererleben und alle schlechten vermeiden.“
    „Und was würden Sie verändern, Professor?“
    „Wenn ich noch einmal jung wäre?“
    Albert zog an seiner Pfeife, er sah Oppenheimer an und brummte: „Wenn ich noch einmal entscheiden müsste, wovon ich lebe, würde ich nicht danach streben, Forscher zu werden, sondern Spengler. Das ist für die Menschheit weniger gefährlich.“
    Der ganze Tisch schrie unisono auf. Aber Albert ging es nicht um eine selbstkritische Introspektion – er hatte Roberts politische Freunde im Visier. Der Einfluss des Militärs auf die Wissenschaft machte ihm größte Sorgen. Seiner Ansicht nach hatte Truman nicht Roosevelts Statur, er wäre außerstande, sich den Paranoikern und Opportunisten entgegenzustellen, von denen es in Washington nur

Weitere Kostenlose Bücher