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Die Göttin der kleinen Siege

Die Göttin der kleinen Siege

Titel: Die Göttin der kleinen Siege Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yannick Grannec
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nicht überstehen, aber das Rot hat durchaus etwas.“ Virginia gehörte zu den Menschen, die man verkehrt herum verstehen musste – Begeisterung war eine Beleidigung, eine vage Vorhaltung war ein zugestandenes Kompliment. Anna reichte ihr eine Flasche Orvieto, einen italienischen Weißwein, dem sie während ihrer gemeinsamen Zeit mit Gianni in Umbrien ein bisschen zu viel zugesprochen hatte. Mit den Fingerspitzen nahm die Gastgeberin das bescheidene Mitbringsel. Calvin, ein versierter Diplomat, bat seine Angestellte in den Salon. „Sie dürfen sich bei uns wie zu Hause fühlen, das wissen Sie ja.“
     
    Anna wählte einen Platz ganz hinten auf einem der großen Sofas neben dem Kamin, wo sie die Tür zur Bibliothek im Rücken hatte. Der Geruch des Leders beruhigte sie. An diesen Raum hatte sie gute Erinnerungen. Als kleines Mädchen hatte sie hier zusammen mit Leo Hausaufgaben gemacht, während Ernestine ihnen in der Küche Waffeln gebacken hatte. Ohne dass sie noch Zeit gehabt hätte, sich innerlich darauf vorzubereiten, tauchte Leonard in ihrem Gesichtsfeld auf und fläzte sich auf das Sofa ihr gegenüber.
    „Wie immer äußerst elegant, Leo.“
    „Ich habe mich aber bemüht. Wie findest du die Krawatte?“
    „Du siehst nach nichts aus. Dein Hemd ist ganz zerknittert.“
    Sie zog den Krawattenknoten gerade und dachte dabei an all die Male, da sie seine Schnürsenkel gebunden, seine Schulsachen wiedergefunden oder es ihm ermöglicht hatte, durch kluge Lügen einer Bestrafung zu entgehen. Leo leerte sein Glas in einem Zug, auch er vermied es, die Tür der Bibliothek anzusehen, er wurde wohl von den gleichen Erinnerungen heimgesucht. Anna verfluchte sich, weil sie so schnell wieder in ihre Gewohnheit verfallen war, ihn zu bemuttern. Unter seiner schlampigen Kleidung erkannte sie den Jungen mit den zusammengepressten Lippen wieder, der zu schüchtern gewesen war, seine Zähne zu zeigen, oder zu gerissen, um seine Genugtuung sehen zu lassen. In der Pubertät hatte er wegen seiner Nase, die für seine zierliche Gestalt außergewöhnlich groß war, starke Komplexe gehabt. Ohne seine dunklen, lachenden Augen wäre er wohl hässlich gewesen. Dass Anna ihn so taxierte, machte ihn verlegen. Er bewegte seine Augenbrauen wie ein billiger Spaßmacher.
    „Hat dir niemand etwas zu trinken angeboten?“
    „Ich muss einen klaren Kopf behalten, weil ich nachher dolmetschen muss. Ich bin im Dienst, abgestellt für den französischen Mathematiker.“
    „Das ist unnötig, sein Englisch ist perfekt. Mein Vater hat bei mir den gleichen Trick angewandt. Er hofft, dass ich mich mit Richardson III. oder IV. abgebe – einem Langweiler erster Güte!“
    Anna fühlte sich in der Falle – Leonard hatte dieses Wiedersehen also nicht angestiftet, die Tür der Bibliothek war seit Langem geschlossen. Sie sagte Ja zu einem Drink. Ihr alter Freund schleppte sich mit unkoordinierten Bewegungen zur Bar. Sein Kompromiss-Hemd stand ihm nicht, Anna war an seine ewigen T-Shirts mit den obskuren Aufschriften gewöhnt. Seine fürchterlich nachlässige Kleidung konnte weniger Scharfsinnige täuschen. Adams junior kaschierte seinen glasklaren, scharfen Verstand unter einem billigen Rebellen-Outfit. Er war eine analytische Maschine wie ein Computer, und diese Offenbarung in jungen Jahren hatte sein Schicksal besiegelt. Sein gelebter Nonkonformismus hatte ganz klar mit der Kahlköpfigkeit des Vaters und dem Alkoholismus der Mutter zu tun, es sei denn, er wäre die natürliche Folge davon.
    Leo kam mit zwei Gläsern zurück, groß wie Suppenschüsseln. Wenn man von seinem gut eingeschenkten Whiskey und seiner bereits lichten Stirn ausging, vereinten sich in Leo beide Erbmassen. Calvin Adams streckte den Kopf herein und machte ein Handzeichen – die Gäste kamen. Sein Sohn zwinkerte ihm zur Antwort nur zu. Anna beunruhigte diese ungewöhnliche Fügsamkeit. Sie erinnerte sich an einen Abend, als der Junge barfuß aus dem Haus gegangen war und die Tür hinter sich zugeschlagen hatte. Er war nicht sehr weit gekommen. Die Eltern hatten Tine geschickt, um ihn auf der Polizeiwache abzuholen. Über drei Wochen lang hatte Leo kein Wort mehr mit seinen Erzeugern gesprochen. Damals war er knapp zehn Jahre alt gewesen.
    „Ich habe gehört, dass dein Vater eine Studentin geheiratet hat. Rachel war bestimmt völlig außer sich.“
    „Das ist eine alte Geschichte. Inzwischen hat sie sich einen sonnengebräunten Anthropologen aus Berkeley geangelt. Ein

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