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Die Göttin der kleinen Siege

Die Göttin der kleinen Siege

Titel: Die Göttin der kleinen Siege Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yannick Grannec
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auf Goethe scheißen. Sehen wir uns am Sonntag bei Albert?“

41.
    Anna ging vom Institut aus zu Fuß und wartete den richtigen Zeitpunkt ab. Sie hatte Adeles Rat befolgt und sich eine neue Garderobe geleistet. Unter ihrem streng geschnittenen Mantel trug sie ein Kleid aus rotem Crêpe, das für ihre kleine Brust zu weit ausgeschnitten war. Sie fühlte sich wie in Sonntagskleidung. Sie hatte sich geschminkt und im letzten Moment noch ihre Haare gelöst und sich dabei gefragt, wozu ein solches Arsenal in einem bereits verlorenen Krieg überhaupt gut sein sollte.
    Zum Einladungstermin, den sie um eine akzeptable Verspätung hinausgezögert hatte, ging sie das Sträßchen zu Olden Manor hinauf, dem stattlichen Herrenhaus aus dem 18. Jahrhundert mit knapp zwei Dutzend Zimmern, die seit 1939 die jeweiligen Direktoren des IAS bewohnten. Das Haus hatte unter anderem auch Robert Oppenheimers Kinder groß werden sehen. Als Kind hatte Anna dort alle Ecken erkundet, aber seit Jahren war sie nun nicht mehr hier gewesen. Die Erinnerungen, die mit diesem Ort verbunden waren, schürten ihre Ängste. Als sie schon wieder auf dem Absatz kehrtmachen wollte, ging die Tür auf und Ernestines gütiges Gesicht erschien in der Öffnung.
    Die Kreolin stand seit fast zwanzig Jahren im Dienste der Adams. Sie gehörte mittlerweile zum Inventar wie auch ihre ewigen grellbunten Kittelschürzen. Virginia Adams hatte sie nicht zwingen können, ihrem tropischen Geschmack zugunsten eines ernsthafteren und dem gesellschaftlichen Status der Familie angemesseneren Outfits als Kindermädchen abzuschwören. Im Gegenteil: Mit der Zeit hatten die Rankenmuster an Umfang gewonnen. Was es auch war, Ernestine hatte nie auf etwas verzichtet, auch nicht auf ihre verwirrende Gewohnheit, ihre Sätze mit obskuren französischen Redewendungen zu spicken.
    „Anna, mon bel oiseau“ , – mein schönes Vögelchen. „Ich freue mich so, dich zu sehen!“ Umstandslos küsste sie die junge Frau auf beide Wangen. Anna erkannte ihren charakteristischen Geruch wieder – Vanille und Hefe.
    „Sie haben sich nicht verändert, Tine.“
    „Taratata, je suis une vraie baleine “, – ich bin ein richtiger Wal. „Aber du bist hübsch wie ein Herz.“
    Sie kniff Anna in die Taille.
    „Wenn ich dich unter meine Fittiche nehmen könnte, hättest du ein bisschen mehr Fleisch auf den Rippen. Mein Gott! Die jungen Frauen von heute!“
    Anna reichte ihr ein kleines Päckchen. Als von der oberen Etage ein hysterischer Aufschrei ertönte, fuhren beide zusammen. Ernestine hielt sich seufzend die Lenden. In der Eingangsdiele erschien Calvin Adams. Er hatte sich umgezogen und legere Kleidung angelegt – ein Flanellhemd in warmen Farbtönen über einem weißen Rollkragenpullover. Anna hatte ihn im Verdacht, unter dieser altmodischen Koketterie den Ansatz eines Kropfes zu verstecken. „Sie sehen hinreißend aus mit Ihrem neuen Haarschnitt, Anna!“ Dieses Mal beherrschte sie sich, ihr Haar zu berühren, sie würde sich nicht mehr durch leicht dahingesagte Komplimente ködern lassen. Und Calvins Komplimente fühlten sich an wie eine feuchte Hand auf ihrem Busen. Zum Glück hielt er sich nicht damit auf und bat Ernestine, die Dame des Hauses zu beruhigen.
    Virginia tauchte in einer dicken, schweren Parfümwolke auf. In einer Hand hielt sie ein Glas, in der anderen eine Zigarette. Anna hatte sie schon immer so gekannt.
    „Sie sind früh dran. Es ist noch nichts fertig.“
    Anna ließ sich nicht beirren, gegen Missis Adams’ Gehässigkeit war sie von Kindheit an geimpft. Sie schätzte ab, wie lange es dauern würde, bis das raffinierte Make-up der Gastgeberin durch einen ihrer üblichen theatralischen Weinkrämpfe zerstört wäre. Virginia machte noch immer etwas her, auch wenn das Alter sie dazu zwang, die Dosis künstlicher Schönheit zu erhöhen. Sie war eine strahlende, entsicherte Granate, deren Explosion ihr Mann seit Jahren mit aller Kraft zu verhindern suchte.
    Anna stand kurz mit vollen Händen da, bis man ihr die Milde zuteil werden ließ, ihre Sachen abzulegen. Virginia unterzog sie der gewohnten Inspektion. Ohne ihre Zigarette abzulegen, befühlte sie das rote Kleid mit einem Finger. Anna betete, die glühende Spitze möge den dünnen Stoff nicht in Brand setzen. So einen teuren Fummel hatte sie sich noch nie geleistet. Dennoch war sie noch immer weit entfernt von jenem Luxus, den Virginia, eingehüllt in einen Seidenkaftan, zur Schau stellte.
    „Eine Wäsche wird es wohl

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