Die Göttin der kleinen Siege
Ding in der Hand. Ich verbat mir, ihn danach zu fragen, aber er hatte mein Interesse bemerkt.
„Das ist eine Kopie von Goethes Totenmaske. Ich habe sie immer zur Hand.“
„Guter Gott! Wozu denn das? Sie sind makaber!“
„Haben Sie ein Problem mit dem Tod, Adele?“
„Wer hat das nicht? Dennoch habe ich nicht das Bedürfnis, in solch grauenvollem Zeug zu kramen!“
Sein Mund verzog sich zu einer Parodie eines Lächelns.
„Wie würden Sie Ihr Intimleben beschreiben. Ich meine damit natürlich die Sexualität, Kurt?“
Ich mäßigte mein nervöses Lachen. „Schüler Gödel, an die Tafel! Haben Sie Ihre Hausaufgaben gemacht?“ Haare, Sex, Begierde – das waren Fremdwörter für Kurt. Er hatte nicht einmal gemerkt, dass ich keine Monatsregel mehr hatte, dazu hätte er sich ja bequemen müssen, sich mir zu nähern. Musste sich das Leben wirklich auf diesen Kalten Krieg reduzieren? Getrennte Schlafzimmer. Einsame Mahlzeiten am Fenster im Stehen. Vielleicht gab es ja in dieser Welt, in dieser Stadt einen Mann für mich. Einen Unbekannten, der mich zum Lachen bringen könnte und mit mir tanzen ging. Der mich in sein Bett einladen würde. Warum war ich nie mit einer Zufallsbekanntschaft in ein Hotel gegangen? Aus Angst vor Gerede? Aus Restliebe zu Kurt? Aus Scham über meinen alternden Körper? Nein, ganz sicher aus Mangel an Gelegenheit.
„Seit wann sind Sie in der Menopause, Adele?“
Nun war ich in Auflösung begriffen. Das war ein Tiefschlag. Kurt sank noch weiter in seinen Sessel.
„Ist das vielleicht der Grund für das Problem? Ihr Mann hat seine Arbeit – Sie haben … Ihren Mann. Ist Ihr System aus dem Gleichgewicht, weil Sie keine Kinder haben?“
Nervös zog ich an meiner Zigarette. Die Mutterschaft hatte ich schon lange abgehakt, auch als mein Bauch noch geschrien hatte, dass es möglich wäre. Auf lange Sicht hätte Kurt nachgeben können, wie auch bei unserem Haus. Ich langweilte mich fürchterlich. Zumindest hätte er einwilligen können zu versuchen, mir ein Kind zu machen und so die Liste seiner Entscheidungen zu verlängern – ein Beschluss zum Handlungswillen. Aber die Debatte war von meiner biologischen Uhr beendet worden. Keine Menschenseele hatte zu uns kommen wollen. Nach dem Krieg hatten wir sogar mit dem Gedanken gespielt, ein kleines Mädchen zu adoptieren, aber Kurt konnte sich nicht dazu durchringen, jemandem, der nicht von seinem Blut war, den Namen Gödel zu geben. Er hatte ja schon zehn Jahre gebraucht, bis er mir diesen Namen zugestanden hat.
Wie wäre unser Junge geworden? Ich dachte oft daran, es war wie eine lustvolle Kasteiung. Ich stellte ihn mir als Einzelkind vor. Ein alter Bub. Ein „Fräulein Gödel“ ist mir nie in den Sinn gekommen. Diese Welt war für Mädchen nicht gemacht. „Gepriesen sei er, der mich nicht zu einer Frau gemacht hat!“, hatte meine Freundin Lili von Kahler gesagt und dabei die Tora zitiert.
Es widerstrebte mir, Hulbeck mein Leid zum Fraß vorzuwerfen, und ich antwortete so ruhig, wie es mir möglich war: „Wir haben uns entschieden, keine Kinder zu bekommen.“
Ich hätte meinen Sohn auf jeden Fall „Oskar“ genannt, um den treuen Freund Morgenstern zu ehren, auch wenn er mich aufregte. Marianne hätte auf „Rudolf“ bestanden, als Ersatz für ihren toten Mann. Am Ende hätte man ihn Rudolf getauft wie Kurts Vater und Bruder. Einstein, von Neumann und Oppenheimer wären Taufpaten gewesen. Er hätte helle Augen gehabt wie wir beide. Er wäre in Amerika aufgewachsen und hätte schöne Zähne in einem festen Erobererkiefer gehabt. Hätte er Kaugummi gemocht? Beim Kauen fällt Denken schwer, Kurt hätte es ihm nicht erlaubt. Wäre er Wissenschaftler geworden? Er hätte sein Leben damit verschwendet, mit seinem Vater gleichziehen zu wollen. Wie kann man der Sohn eines Gottes sein, ohne selbst ein Gott zu sein? Da solchen Sprösslingen der Olymp verwehrt ist, haben sie die Wahl zwischen Wahnsinn und Mittelmaß, zumindest was Genies darunter verstehen und was unsereins „normal“ nennt. So war es nämlich Einsteins Söhnen ergangen: Der brillantere Kopf der beiden wurde schizophren, der andere Ingenieur. Was für eine schreckliche Enttäuschung! „Man kann nicht erwarten, dass die eigenen Kinder einen Verstand ererben“, sagte er, der liebe Albert, der wie jede Gottheit, die etwas auf sich hält, so gütig und gleichzeitig so grausam war.
Unser Wiener Kind wäre vielleicht Musiker geworden. Was wäre aus dem Princetoner Jungen
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