Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Göttin der kleinen Siege

Die Göttin der kleinen Siege

Titel: Die Göttin der kleinen Siege Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yannick Grannec
Vom Netzwerk:
geworden? Bildhauer vielleicht. Wenn ja, dann hätte Rudolf Gödel senior Hüfthalter verkauft, damit sein Sohn Kurt Wissenschaftler und sein Enkel Künstler werden konnte. Und was hätte der Sohn meines Sohnes gemacht? Er hätte den Kreis geschlossen, indem er mit der Kunst seines eigenen Vaters gehandelt hätte.
    Und wenn unser Bub sportlich gewesen wäre? Wenn er sein Glück inmitten dieser groß gewachsenen Burschen mit kurzen Haaren auf dem Campus gefunden hätte? Ich hätte diese Ironie des Schicksals begrüßt: Kurt, der Leibesübungen hasste wie die Pest, hätte seinen Sohn gezwungenermaßen zu einem Baseballspiel begleiten müssen!
    Aber Kurt hatte mir nicht gestattet, ein Kind zu gebären – damit hätte er dem Unvorhergesehenen, dem Unkontrollierbaren Raum gelassen. Der Enttäuschung. Unser Sohn hat gut daran getan, sich nicht blicken zu lassen. Für drei hätte ich keine Kraft gehabt.
     
    Die rechte Augenbraue des Psychiaters war oben auf der Stirn erstarrt, als hätte er zu lange ein Monokel getragen. Er presste seine dicken Lippen zusammen.
    „Wer möchte sich zu diesem Krankenhausaufenthalt äußern?“
    „Kurt war als Notfall eingewiesen worden wegen eines durchgebrochenen Magengeschwürs, das er nicht behandeln lassen wollte. Er geht Ärzten hartnäckig aus dem Weg. Lieber klagt er oder nimmt Zaubertränke ein. Er wäre fast gestorben! Er hat seinem Freund Morgenstern sogar sein Testament diktiert.“
    „Ich hatte andere Sorgen, ich bekam die ‚Gibbs Lecture‘ der American Mathematical Society und musste meine Preisrede vorbereiten.“ 28
    „Adele, fühlen Sie sich für die gesundheitlichen Probleme Ihres Mannes verantwortlich?“
    „Meinen Sie: schuldig? Ich habe mein Leben dabei verloren, das seine zu retten!“
    Ich stand auf, ich war entschlossen zu gehen.
    „Setzen Sie sich!“, wetterte der Trommler.
    „Da sehen Sie es! Sie ist hysterisch, sie ist außerstande, ein Gespräch zu führen wie ein erwachsener Mensch.“
    „Er führt Tagebuch über seine Verstopfung und hat die Stirn, mich hysterisch zu nennen!“
    „Ich achte sehr auf meine Gesundheit – auf meine Weise. Ich halte sehr streng Diät.“
    Ich setzte mich wieder und warf meine Tasche aufs Sofa.
    Hätte Doktor Hulbeck gewusst, wie äußerst seltsam diese Diät war – er hätte Kurt auf der Stelle einliefern lassen! Ein Viertel Butter auf einem Happen Toastbrot und geschlagenes Eiweiß. Keine Suppe, kein frisches Obst. Fast nie Fleisch. Ein Hühnchen reichte uns oft eine ganze Woche, wenn ich es nicht heimlich unter Kurts Brei mischte. Totgekochte, neutrale Nahrungsmittel, reduziert auf ein Minimum zum Überleben.
    „Er traut sich Ihnen gegenüber nicht zuzugeben, dass er Angst hat, vergiftet zu werden – einschließlich von mir! Wenn wir irgendwo eingeladen sind, muss ich ihm sein Essen in einer Dose mitnehmen. Stellen Sie sich vor, wie peinlich mir das ist!“
    „Meine Frau übertreibt. Ich finde ihre Küche zu schwer, und sie regt sich über Nichtigkeiten auf. – Hier ist es ganz verqualmt. Könnten Sie wohl das Fenster öffnen?“
    „Warum ziehen Sie Ihren Mantel nicht aus, Kurt? Haben Sie es eilig, wieder zu gehen?“
    „Ich friere.“
    Ich rollte mit den Augen, auf eine Widerrede mehr kam es nun auch nicht mehr an.
    „Das soll für heute reichen. Als Arzt muss ich Ihnen jedoch dringend zu einem kleinen Aufenthalt an der frischen Luft raten, Kurt. Damit Sie wieder zu Kräften kommen – auf akademische Weise.“
    „Warum gehen wir nicht in die Schweiz und besuchen die Paulis? Die Schweiz würde dir gefallen. Es ist sauber, ruhig. Oder nach Wien? Ich bin sogar bereit, deine Mutter zu sehen!“
    Hulbeck hüstelte unverhohlen.
    „Du weißt genau, wie ich darüber denke, Adele.“
    „Ich halte es in Princeton nicht mehr aus. Warum nimmst du das Angebot von Harvard nicht an? Die Leute dort waren sehr freundlich.“
    „Darüber reden wir ein andermal.“
    Die donnernde Trommel unterbrach unser Gespräch. Die Sitzung war beendet.
    „Wir machen Fortschritte. Lassen Sie sich von meiner Assistentin einen neuen Termin geben.“
    Kurt stand auf und bezahlte den Psychoanalytiker, der uns zur Tür seines Sprechzimmers brachte. In der Diele streifte ich ein wenig gedankenverloren meine Handschuhe über, da streckte Hulbeck seinen Doggenkopf aus der Tür.
    „Ach, Adele – diese Totenmaske habe ich aus einem einzigen Grund: Wut hat auch ihre Vorteile. Ich bemühe mich, dies nie zu vergessen. Ich werde bis zu meinem Tod

Weitere Kostenlose Bücher