Die Göttin der kleinen Siege
zuvor hatte ich Angst gehabt, Kurt zu zerbrechen, wenn ich ihn liebkoste. Verglichen mit dem massiven, behaarten Oberkörper meines ersten Mannes, war seiner sehnig und haarlos. Ich musste ihn zwar nicht aufklären, aber ich musste ihm die Lust beibringen, denn am Anfang unserer Beziehung war Sex für ihn eine Art Notdurft gewesen – ein Tribut, den man der Biologie zollen musste, ein Vorgang, den man nicht vernachlässigen durfte, auch wenn man dabei an Geistesschärfe einbüßte.
Natürlich gehörte ich nicht in seine Welt. Aber Intellektuelle sind nicht weniger Männer, ihr Bedürfnis ist keine Nebensache. Im Gegenteil: Kurt und seine Freunde hatten sogar ein wildes Verlangen, sie wollten sich Genugtuung verschaffen. Sie strebten nach einem unmöglich zu erreichenden Ideal, und sei es mittels des Fleisches. Wir Mädels waren immerhin eine Wirklichkeit, die man sich zurechtkneten konnte.
Seine Jungfräulichkeit hatte er in recht jungen Jahren mit einer reifen Schönheit verloren, einer Freundin der Familie. Als Kurts Mutter Marianne hinter diese Liaison kam, stürzte sie sich in eine massive Kampagne zur Rettung der Familienehre – ein Kapital, das man nicht mit einem eher hoffnungslosen Mädchen vergeudete. Marianne hatte für ihren Sohn eine Heirat mit einer Frau von angemessenem gesellschaftlichen Stand vorgesehen, eine komfortable Verbindung, um den Alltag ihrer wertvollen Nachkommenschaft zu polstern. Kurts Frau sollte gebildet und wohlerzogen sein, aber keinen persönlichen Ehrgeiz besitzen; das wäre ein notwendiger und hinreichender Boden, um die Dynastie dieser kleinbürgerlichen Neureichen, die durch die harte Arbeit des Vaters zu Wohlstand gekommen waren, fortzuführen, ja gar fest zu verwurzeln. Nach dem erzwungenen Bruch mit der Dame hatte Kurt seine Intimsphäre geschützt und Geschmack an heimlichen Affären gefunden. Einige Jahre nach unserem Zusammentreffen im Nachtfalter sollte die Enthüllung unserer Liebe wie eine ungerechte Strafe für ein so tugendhaftes Leben über die Mutter kommen. Marianne sollte mir Kurts Heimlichtuerei niemals verzeihen – selbstredend ohne sich einzugestehen, dass ich deren erstes Opfer war.
Im Winter 1929 befand sich Frau Gödel noch in seliger Unwissenheit über meine Existenz. Nach dem Tod ihres Gatten zog sie zu ihren Söhnen nach Wien. Von da an musste Kurt wahre Heldentaten vollbringen, um seine Zeit zwischen der argwöhnischen Marianne und der fordernden Adele aufzuteilen und dabei weiterhin seiner Arbeit an der Universität nachzugehen. Kurt, der nicht gern aß, dinierte bei mir, anschließend soupierte er nach dem Theater mit seiner Familie. Einen Teil der Nacht verbrachte er in unserem Bett, im Morgengrauen eilte er in sein Büro, am Tag musste er lange Verdauungsspaziergänge am Arm der Mutter im Prater über sich ergehen lassen. Wie konnte er das aushalten? Ein Fels wäre daran zerbrochen. Doch er sagte selbst, dass er noch nie so produktiv gearbeitet hätte. Ich begriff damals nicht, dass er sich verzehrte.
Kaum hatte er seinen „220“er-Apfel angebissen, sprang er aus dem Bett. Er bürstete seine Kleider aus, polierte seine Schuhe und prüfte jeden Hemdknopf. Beim ersten Mal hatte ich gelacht, bevor er mir den Sinn dieses persönlichen Tanzes erklärt hatte: „Das Hemd muss man immer von unten nach oben zuknöpfen, damit man die Knöpfe nicht versetzt in die Löcher drückt.“ In die Hose schlüpfte er erst mit dem linken Bein – da er auf dem rechten besser das Gleichgewicht halten konnte, minimierte er somit die Zeit, die er in einer labilen Position verbringen musste. So war das bei allem in seinem Leben.
Ohne zu murren, zog er sein zerknittertes Hemd an: Also hatte er mich nicht belogen, er würde tatsächlich zur Arbeit gehen. Er hätte es nie gewagt, nachlässig gekleidet im Salon der Frau Mama zu erscheinen. Als Kunde der besten Herrenausstatter Wiens war Kurt immer sehr elegant. Für den Bohemien-Schick bestimmter Studenten hatte Marianne wenig übrig. Sie betrachtete ihre Söhne als Aushängeschild des Gödelschen Erfolges. Immerhin waren Kleider Familiengeschichte – der Vater war vom Vorarbeiter zum Leiter eines Textilunternehmens aufgestiegen. Ich war da eher nachlässig. Ich war zwar eitel, aber meine Kleidung ließ immer zu wünschen übrig: eine Laufmasche im Strumpf, ein verdrehter Ärmel, Handschuhe von zweifelhafter Farbe. Doch mein leichter Morgenrock erregte Kurt so sehr, dass er mich mit seinen Manien verschonte. Bei
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