Die Göttin der kleinen Siege
ihm führte immer alles ins Extrem, aber seinen Kleidungs-Terrorismus übte er nur bei sich selbst aus. Was ich anfangs für Snobismus oder bourgeoisen Atavismus gehalten hatte, war für Kurt überlebenswichtig: Er trug seine Anzüge, um der Welt gegenüberzutreten. Ohne Anzug hatte er keinen Körper. Jeden Morgen kostümierte er sich erneut als Mensch, und dieses Kostüm musste tadellos sein, denn es stand für seine Normalität. Erst später fand ich heraus, dass er so wenig Vertrauen in sein geistiges Gleichgewicht hatte, dass er sein Leben mit einem Raster der Alltäglichkeit überzog: normale Kleidung, ein normales Haus, ein normales Leben. Und ich war eine ganz gewöhnliche Frau.
7.
„Aber ich habe doch gar nicht Geburtstag!“ Adele zögerte, ihre Haube abzusetzen, sie wollte ihr schütteres Haar nicht entblößen. Anna kniete sich hin und tat so, als würde sie in ihrer Tasche einen Spiegel suchen, den sie jedoch schon gefunden hatte. Als sie sich wieder aufrichtete und auf Augenhöhe mit Adele war, trug diese bereits Annas Geschenk: einen Turban in einem sehr gedeckten Blaugrau.
„Sie sind hübsch, Adele! Sie sehen aus wie Simone de Beauvoir. Die Farbe passt zu Ihren Augen.“
Selbstgefällig betrachtete sich die alte Dame. „Sie haben mich beim Vornamen genannt. Das macht mir nichts aus, aber hören Sie einfach auf, ihn je nach den Umständen zu gebrauchen. Ich bin nicht senil.“
Sie glättete und faltete das Seidenpapier zu einem Quadrat.
„Gladys wird mir bestimmt auf die Nase binden, wie alt ich damit aussehe.“
„Seit wann kümmern Sie sich um die Meinung anderer?“
„Sie wirkt so harmlos, aber sie ist eine Hexe. Sie wühlt in meinen Sachen.“
„Ich glaube, so weit habe ich das begriffen.“
„Gladys’ Boshaftigkeit ist unterschwellig. Langfristig kann es einen umbringen, sie zu oft zu sehen. Außerdem hat sie drei Männer verschlissen.“
„Sie ist noch immer auf der Jagd.“
„Manche Leute können einfach nicht aufhören.“
Sie putzte den Spiegel mit der linken Seite ihres Ärmels, bevor sie ihn Anna zurückgab.
„Also, was ist der Preis für Ihre Großzügigkeit? Ich bin nicht von gestern, junge Frau. Für ein Geschenk will man immer etwas zurückbekommen.“
„Das hat nichts mit dem Nachlass zu tun. Ich würde Ihnen gern eine persönliche Frage stellen, wenn Sie erlauben. Ich frage mich …, worüber Sie mit Ihrem Mann diskutiert haben.“
„Ständig entschuldigen Sie sich. Das ist ermüdend.“
Adele räumte das zusammengefaltete Papier in ihr Nachtkästchen. Anna aber wusste nicht, was sie mit ihren Händen machen sollte, also klemmte sie diese zwischen ihre Schenkel.
„Was machen Ihre Eltern?“
„Beide sind Professoren für Geschichte.“
„Rivalen?“
„Kollegen.“
„Ich bin sicher, dass Ihre Eltern, so intellektuell sie auch sein mögen, sonntags händchenhaltend spazieren gegangen sind.“
„Sie haben viel miteinander geredet.“
Anna hörte sich lügen, ohne mit der Wimper zu zucken. Wäre sie ganz ehrlich gewesen, hätte sie „reden“ durch „schreien“ ersetzen müssen. Zwischen den beiden hatte ständige Konkurrenz geherrscht, selbst in Bezug auf ihr Kind. Die Vorlesungen des einen waren in den Arbeiten des anderen zerrissen worden, wenn sie sich nicht gerade in aller Öffentlichkeit gezankt hatten. Um Waffenstillstand zu schließen, hatten sie gewartet, bis ihre Tochter mit ihrem Studium begonnen hatte. Ein jeder hatte ein Gebiet abgesteckt, das groß genug war, um seiner Großartigkeit Ausdruck zu verleihen. Rachel war an die Westküste nach Berkeley an die University of California gegangen, George hatte Harvard in seiner Heimat Massachusetts gestürmt. Anna war in Princeton geblieben, allein in dieser Stadt, die sie immer hatte verlassen wollen.
„Wie haben sie sich kennengelernt?“
„Beim Studium.“
„Es verblüfft Sie wohl, dass eine Frau wie ich einen so klugen Kopf wie ihn gekriegt hat.“
„Ich bin von klugen Köpfen umgeben, sie machen keinen Eindruck auf mich. Aber Ihr Mann ist eine Legende, selbst unter seinesgleichen. Er war dafür bekannt, dass er überaus verschlossen war.“
„Wir waren ein Paar. Graben Sie nicht weiter.“
„Und abends beim Essen haben Sie über seine Arbeit gesprochen? ‚Ach übrigens, heute habe ich die Möglichkeit von Zeitreisen nachgewiesen – würdest du mir bitte das Salz reichen, Schatz?‘“
„War das bei Ihnen zu Hause so?“
„Ich habe die Mahlzeiten nicht mit meinen
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