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Die Göttin der kleinen Siege

Die Göttin der kleinen Siege

Titel: Die Göttin der kleinen Siege Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yannick Grannec
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Dieses Lokal war nichts für mich, man redete dort mehr, als man trank. Man ließ dort eine Welt wiederauferstehen, deren Wiederaufbau ich unnötig fand. Beim Treffen an jenem Abend ging es wohl um eine Reise zu einem Kongress in Königsberg. Es tat mir nicht leid, nicht dazu eingeladen zu sein – eine ‚Tagung für Erkenntnislehre der exakten Wissenschaften‘ war nicht gerade eine Sommerfrische für Verliebte. In den Tagen vor diesem Treffen war Kurt besonders aufgekratzt, er war enthusiastisch – ein noch nie da gewesener Zustand. Er konnte es nicht erwarten, seine Arbeiten vorzustellen.
    Ich wartete geduldig unter den Arkaden, bis ich ihn endlich aus dem Kaffeehaus kommen sah – allein und lange nach den meisten anderen. Ich hatte Durst, ich hatte Hunger und wollte ihm schon aus Prinzip eine Szene machen. Doch an seiner gebeugten Haltung sah ich, dass der Zeitpunkt schlecht gewählt war.
    „Wollen wir essen gehen?“
    „Das muss nicht sein.“
    Er knöpfte sein Jackett sorgfältig zu. Es saß nicht mehr so tadellos wie im Sommer zuvor, es schien einem anderen, einem fülligeren Mann zu gehören.
    „Dann gehen wir spazieren, wenn du Lust hast.“
    „Spazierengehen“ hieß für ihn, sich in Schweigen zu hüllen. Nach ein paar Minuten hielt ich es nicht mehr aus. Was, außer reden, kann man tun, um einen Mann zu trösten, der sich weigert, zu essen und einen anzufassen? Gegen Stress kannte ich kein besseres Mittel.
    „Warum willst du unbedingt Mitglied dieses Kreises sein, wenn du die Ansichten der anderen nicht teilst?“
    „Sie regen mich zum Nachdenken an, und ich muss meine Forschungsergebnisse vorstellen. Ich muss meine Doktorarbeit veröffentlichen, damit ich die Lehrbefugnis bekomme.“
    „Du bist wie ein kleiner Bub, der von seinen Weihnachtsgeschenken enttäuscht ist.“
    Er schlug den Kragen hoch und steckte seine Hände in die Taschen, die feuchte Nachtluft spürte er nicht. Ich hakte mich bei ihm unter.
    „Ich habe am Tisch eine Bombe platzen lassen. Alle schlagen mir auf den Rücken, dann verlangen sie die Rechnung und … das war’s dann.“
    Auch ich schauderte. Sicherlich vor Hunger.
    „Bist du dir ganz sicher? Vielleicht hast du bei deinen Berechnungen doch Fehler gemacht.“
    Er schob meinen Arm weg und schlug zur Translation einen anderen Weg ein.
    „Meine Beweisführung ist fehlerlos, Adele.“
    „Dessen bin ich mir sicher. Ich kenne ja deine Art, ein Fenster dreimal aufzumachen, um sicherzugehen, dass es auch fest verschlossen ist.“
    Ein Grüppchen Nachtschwärmer rempelte uns an. Ich tippelte schnell auf meinen Pumps, um Kurt wieder einzuholen. Er hatte seinen Gedankengang nicht unterbrochen, und ich musste mich an den Büschen festhalten.
    „Charles Darwin hat gesagt, ein Mathematiker sei wie ein Blinder, der in einem dunklen Raum eine schwarze Katze sucht, die es nicht gibt. Aber ich, ich stehe im hellsten, reinsten Licht!“
    „Wie können sie also daran zweifeln? Euer Gebiet ist das der Gewissheit. Jeder weiß doch, dass zwei und zwei vier sind. Das ist eine ewige Wahrheit!“
    „Manche Wahrheiten sind nur vorläufige Konventionen. Zwei und zwei ergeben nicht immer vier.“
    „Aber, also, wenn ich das an den Fingern abzähle …“
    „Die Zeiten, in denen man sich in der Mathematik auf subjektive Wahrnehmungen verlassen hat, sind lange vorbei. Man versucht im Gegenteil, mit nicht-subjektiven Methoden zu arbeiten.“
    „Das verstehe ich nicht.“
    „Ich habe großen Respekt vor dir, Adele, aber diesem Thema bist du wirklich nicht gewachsen. Darüber haben wir schon gesprochen.“
    „Manchmal kommt man bei den kompliziertesten Gedanken weiter, wenn man versucht, sie ganz einfach zu fassen.“
    „Bestimmte Ideen kann man nicht einfach in der menschlichen Sprache formulieren.“
    „Da haben wir’s! Ihr haltet euch für Götter! Ihr würdet gut daran tun, euch von Zeit zu Zeit dafür zu interessieren, was um euch herum geschieht. Bist du dir der Not der Menschen bewusst? Machst du dir, und sei es auch nur ein kleines bisschen, Sorgen wegen der nächsten Wahl? Ja, ich lese Zeitung, Kurt, und die ist in der Sprache der Menschen geschrieben!“
    „Du musst lernen, deine Wut zu zügeln, Adele.“
    Er nahm mich an der Hand – eine Premiere in der Öffentlichkeit. Wir gingen unter den stillen Arkaden hindurch bis zum Gürtel.
    „In bestimmten Fällen kann man eine Sache und ihr Gegenteil beweisen.“
    „Das ist nichts Neues, auf diesem Gebiet kenne ich mich

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