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Die Göttin der kleinen Siege

Die Göttin der kleinen Siege

Titel: Die Göttin der kleinen Siege Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yannick Grannec
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Eltern eingenommen.“
    „Verstehe. Großbürgerliche Erziehung.“
    „Prophylaxe.“
    „Ich verstehe nicht.“
    „Ich wurde nach der alten Schule erzogen.“
    Annas Kindheit war geprägt gewesen von ständigem häuslichen Chaos, das sich fest umrissen zwischen gepolsterten Türen abgespielt hatte: Abendessen zu zweit mit ihrer Gouvernante, Privatschulen, Tanzstunden, Musikunterricht, Rüschenkleider und allgemeine Inspektion vor gesellschaftlichen Verpflichtungen. Bei der Rückfahrt von Empfängen, auf denen ihre Mutter umhergeflattert war und ihr Vater doziert hatte, hatte Anna sich auf der Rückbank des Wagens zusammengekauert und so getan, als würde sie schlafen, um nicht vom Gespräch ihrer Eltern erdrückt zu werden.
    Angesichts des bitteren Lächelns der jungen Frau zog Adele es vor, ihre Finger eingehend zu begutachten. Sie schien mit der Zählung zufrieden zu sein.
    „Um ganz aufrichtig zu sein – am Anfang unserer Beziehung habe ich ihn geneckt. Ich ertrug es nicht, ausgeschlossen zu sein. Zum größten Teil seines Lebens hatte ich keinen Zugang. Ich musste lernen, auf meinem Platz zu bleiben. Aber dafür war ich nicht geschaffen. Das Ganze überstieg wirklich meinen Horizont, auch wenn ich es nicht zugeben wollte. Aber … wir hatten auch noch andere Sorgen.“
    Anna schenkte der alten Dame ein Glas Wasser ein, damit sie ihren trockenen Gaumen anfeuchten konnte. Adele nahm es mit zögernder Hand, sie mühte sich vergeblich, dem Zittern Einhalt zu gebieten.
    „Kurt strebte Vollkommenheit an, die mit der Idee einer allgemein verständlichen Darstellung nicht vereinbar war, denn diese schließt gewisse Zugeständnisse und Ungenauigkeiten mit ein. Was ich über seine Arbeit weiß, habe ich hier und da aufgeschnappt. Ich habe viel zugehört.“
    „Wann wurde Ihnen seine Bedeutung bewusst?“
    „Schon zu Anfang. An der Universität war er ein kleiner Star.“
    „Haben Sie die Entwicklung des Unvollständigkeitssatzes verfolgt?“
    „Warum? Wollen Sie ein Buch darüber schreiben?“
    „Ich würde gern Ihre Version dazu hören. Unter Eingeweihten ist dieses Theorem eine Art Mythos.“
    „Das hat mich immer zum Lachen gebracht – all diese Leute, die über dieses Scheißtheorem reden. Es würde mich wirklich wundern, wenn nur die Hälfte dieser Leute es überhaupt begriffen hätte. So viel zu denen, die damit alles und jedes beweisen wollen! Ich hingegen kenne die Grenzen meiner Auffassungsgabe – und sie sind nicht mit den Grenzen meiner Faulheit gleichzusetzen.“
    „Ärgern diese Grenzen Sie denn nicht?“
    „Wozu kämpfen, wenn man nichts daran ändern kann?“
    „Das sieht Ihnen ja gar nicht ähnlich!“
    „Sie meinen schon, mich zu kennen.“
    „In Ihnen steckt mehr, als Sie nach außen zeigen. Aber warum ich? Warum erlauben Sie ausgerechnet mir, wiederzukommen?“
    „Sie sind mir ohne Hemmungen über den Mund gefahren. Freundliche Nachsicht finde ich grauenvoll. Ich schätze diese Mischung aus Entschuldigungen und Anmaßung bei Ihnen. Ich würde gern wissen, was Sie unter Ihrem Erstkommunikantinnenröckchen verstecken.“
    Mit einer vornehmen Handbewegung steckte Adele eine dünne Strähne zurück, die sich aus dem Turban gestohlen hatte.
    „Wissen Sie, was Albert gesagt hat? Ja, Einstein gehörte zu unseren engsten Freunden. Da sind Sie sprachlos, was? Ach, was ist er uns mit diesem Spruch auf die Nerven gefallen!“
    Anna beugte sich vor, damit ihr kein Wort entging.
    „‚Das Schönste und Tiefste, was der Mensch erleben kann, ist das Gefühl des Geheimnisvollen.‘ Natürlich kann man darin ein Glaubensbekenntnis sehen. Ich lese etwas anderes heraus. Ich habe das Geheimnisvolle berührt. Aber nur indem ich Ihnen die Tatsachen berichte, kann diese Erfahrung niemals in Sprache übersetzt werden.“
    „Erzählen Sie sie mir wie eine schöne Geschichte. Ich schreibe bei meiner Rückkehr keinen Bericht darüber. Das geht die vom Institut nichts an. Das ist nur zwischen Ihnen, mir und einer Tasse Tee.“
    „Ein Glas Bourbon wäre mir lieber.“
    „Es ist noch nicht einmal Abend.“
    „Na, dann ein Schlückchen Sherry.“

8.
August 1930
Das Kaffeehaus der Unvollständigkeit
    „,Ich habe mich gehütet, aus der Wahrheit ein Idol zu machen, und es vorgezogen, ihr den bescheidenen Namen
der Richtigkeit zu lassen.‘“
Marguerite Yourcenar, Die schwarze Flamme
     
     
    Wenn ich abends keine Vorstellung hatte, wartete ich vor dem Café Reichsrat gegenüber der Universität auf Kurt.

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