Die Göttin der kleinen Siege
verdorbenes Klima noch mehr vergiften. Was soll man mit all dieser Wut machen? Manche lassen sie notfalls an ihrer Nachkommenschaft aus. Dieses Missgeschick konnte mir nicht passieren. Also wurde sie anderen zuteil: unfähigen Beamten, unseriösen Politikern, der pingeligen Krämerin, der aufdringlichen Friseurin, dem schlechten Wetterbericht, diesem Arschgesicht von TV-Entertainer Ed Sullivan, all den Nervensägen, mit denen ich nichts zu schaffen hatte. Als Sicherheitsmaßnahme war ich zu einer Xanthippe geworden. Ich habe mich nie besser benommen. Ich hatte mir angewöhnt zu verreisen, wenn mein Barometer zu viel inneren Druck anzeigte. Diese Kunst der Flucht übte ich aus, bis mir das Alter jenes Ventil raubte. Trotz der Kosten ermunterte Kurt mich dazu, auch wenn ich ihn danach noch abgemagerter und noch schweigsamer wieder antraf. Sollte dank der Entfernung Hoffnung in mir aufgekeimt sein, so war sie innerhalb von zwei Stunden in Princeton wieder verwelkt. Nichts würde Kurt ändern.
Ich war nicht mehr versucht, nach Europa zurückzukehren und dort zu leben. Meine Familie hatte mich enttäuscht. Im vergangenen Frühjahr hatte man mich nach Wien ans Bett meiner sterbenden Schwester eilen lassen – alles Lügen. In all der Dringlichkeit bin ich zum ersten Mal in meinem Leben geflogen und habe mich in unnötige Ausgaben gestürzt. Wir lebten zwar gut, aber nicht so üppig, wie sie drüben dachten. Für diese Leute war ich nur mehr eine Melkkuh. Ich bot ihnen Liebe an, sie verlangten Geld. Am Ende hatte mich das, was mich hätte zerstören können, befreit: Meine wirkliche Familie, das war Kurt – komme, was wolle.
„Verabschieden wir uns, Kurt, wir sind spät dran. Wir gehen heute Abend nach New York in die Metropolitan Opera. Fledermaus , Limousine, Champagner, das ganze Programm!“
„Was ist denn in Sie gefahren, Gödel? Sie verschleudern Ihre Bezüge? Haben Sie Geheimnisse an die Russen verkauft?“
„Johann Strauß ist zwei Stunden lang durchaus erträglich, und ich wollte meiner Frau eine Freude machen. Sie hat es wirklich verdient.“
Alle stimmten zu. Ich forderte meinen Mann auf zu gehen, indem ich ihm seinen Mantel reichte. So hoffte ich, unseren Freunden einen letzten verschrobenen Monolog zu ersparen. Ich hatte schon die Hand an der Türklinke, da drehte Kurt sich um und ging wieder ins Wohnzimmer.
„Sie alle halten mich für einen Exzentriker. Aber glauben Sie mir, in Sachen Logik braucht mir niemand eine Lektion zu erteilen! Ich habe zwar nur wenige Beweise für das, was ich behaupte, aber ich sehe das Muster. Ich sehe es!“
43.
„Pierre, ich möchte Ihnen Anna Roth vorstellen. Sie leitet die Dokumentationsabteilung am Institut. Sie ist fast wie unsere eigene Tochter.“
Anna fragte sich, was diese Demonstration der Zuneigung und diese plötzliche Beförderung auf einen leitenden Posten sollten. Calvin Adams hatte sehr auf ihrer Anwesenheit bei der Dinnerparty bestanden. Auf einmal hatte sie den Verdacht, dass er sie seinem hochrangigen Gast als Geschenkpaket andrehen wollte. Vorlesungen und Frischfleisch – die lokalen Spezialitäten. Sie rügte sich, auch sie wurde wohl langsam paranoid.
Sie begrüßte den Mathematiker in dessen Muttersprache, er erwiderte ihren Gruß in tadellosem Englisch mit einem ganz leichten südfranzösischen Akzent. Pierre Sicozzi sah aus wie eine antike Büste: Adlernase, Bart, Locken. Er ähnelte dem Profil des Archimedes, das auf die Vorderseite der Fields-Medaille geprägt war. In seinem schlichten weißen Hemd war Sicozzi von legerer Eleganz, die zurückgeschobenen Ärmel entblößten gebräunte Unterarme. Dieser Wissenschaftler versagte sich das Leben an der Luft nicht.
Anna kannte Sicozzi dem Namen nach. Er bekleidete einen Lehrstuhl am Institut des Hautes Études Scientifiques , einem Forschungsinstitut für Mathematik und Theoretische Physik in der Nähe von Paris, und war Träger der renommierten Fields-Medaille. Anna dachte an ihr Gespräch mit Adele über die frühzeitige mathematische Genialität zurück. Sie überlegte, ob Sicozzi sich fortan als hoch qualifizierter Sportler in Pension begriff, traute sich aber nicht, ihn zu fragen. Was sein Forschungsgebiet anging, besonders die Von-Neumann-Algebren – von Neumann war eine weitere illustre Gestalt in der Geschichte von Princeton gewesen –, kannte sie kaum mehr als die Begrifflichkeiten. Der Mann hatte den Ruf, zugänglich und ein hervorragender Pädagoge zu sein.
„Tut mir leid,
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