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Die Göttin der kleinen Siege

Die Göttin der kleinen Siege

Titel: Die Göttin der kleinen Siege Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yannick Grannec
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aushalten, ohne den alten Gottfried wieder aufs Tapet zu bringen, Gödel. Was hat er auf der Liste der wackeren Verfolgten zu suchen? Soweit ich weiß, war Leibniz kein Märtyrer.“
    „Newton erhielt starke Unterstützung aus der Politik. Er hat Leibniz vollkommen ungestraft die Entwicklung der Infinitesimalrechnung gestohlen.“
    „Das hat doch nichts mit einem Komplott zu tun! Newton war ein Schuft. Ich habe ihn widerlegt, keine Sorge.“
    „Und was sagen Sie dazu? Aus der Bibliothek von Princeton sind Leibniz-Quellen verschwunden! Oskar kann es bezeugen.“
    Morgenstern nickte verlegen. Die Universität von Pennsylvania war in den Besitz einer Mikrofilmkopie von Leibniz’ handschriftlichem Nachlass mitsamt einer weitgehend vollständigen Forschungsbibliografie des deutschen Universalgelehrten gekommen, aber einige Dokumente fehlten. Kurt zufolge hatte Leibniz alle seine Schriften, Entwürfe und Notizen für die Nachwelt aufbewahrt, also konnte er sie nicht selbst weggeworfen haben. Für Oskar bewiesen diese Lakunen die Nachlässigkeit der Forscher und der Herausgeber der gesammelten Werke, mitnichten jedoch ein Komplott. Doch mein Mann hörte nicht darauf, er war überglücklich, sein Hirngespinst damit nähren zu können.
    „Manche Schriften werden heimlich zerstört von denen, die nicht wollen, dass der Mensch klüger wird.“
    „Von wem denn, großer Gott? Von McCarthy? Der kann doch kaum seinen eigenen Namen buchstabieren!“
    „Leibniz hat die Vorarbeit zur modernen wissenschaftlichen Forschung geleistet. Fast zweihundert Jahre vor Cantor hat er die Antinomien der Mengenlehre aufgezeigt. Sogar meinen Freunden Morgenstern und von Neumann war er in der Spieltheorie voraus gewesen!“ 34
    Der stoische Oskar hatte schon so viele Angriffe parieren müssen, da hielt er sich mit diesem vorerst letzten nicht auf.
    „Jetzt kommen Sie mir nicht mit einer Verschwörung der Rosenkreuzer oder sonst irgendeiner Geheimgesellschaft. Wir haben ausreichend dämliche Zeitgenossen. Politische Verfolgung geschieht mittlerweile am helllichten Tag. Mal ernsthaft – unserer Zeit geht Ihr Leibniz am Gesäß vorbei!“
    „Die allgemeine Gleichgültigkeit ist ein weiterer Beweis für eine Intrige! Ich verschlüssele alles in der Gabelsberger. Das sollten Sie auch tun, Herr Einstein.“
    „Das ist unnötig. Ich bin außerstande, meine eigenen Sachen noch einmal zu lesen.“
    Ich lächelte über den Versuch des alten Physikers, die Unterhaltung aufzulockern. Kurt glaubte so sehr an ihre Freundschaft, dass er sich Einsteins Desinteresse an diesem Thema einfach nicht eingestehen konnte und weiterhin beteuerte, wie unvergleichlich aktuell die Arbeiten seines Idols seien. Wie Kurt hätte auch Leibniz an einer universellen Symbolsprache gearbeitet und angeblich auch eine gefunden, jedoch nicht gewagt, seine so vorauseilenden Erkenntnisse zu veröffentlichen. Darauf reagierte Einstein dann immer mit einem Spruch ihres Kollegen Paul Erdo˝s: „Gödel, Sie sind Mathematiker geworden, damit die Menschen Ihre Werke studieren können, nicht, damit Sie Leibniz studieren, in Dreiteufelsnamen!“
    Und wieder ging es los:
    „Wie Leibniz suche ich die reine Wahrheit. In dieser Eigenschaft bin auch ich eine Zielscheibe. Man will mich aus dem Weg räumen.“
    „Wer ist ‚man‘? Kommt Hitlers Geist nachts und kitzelt Sie an den Füßen?“
    „Ich habe ausländische Agenten enttarnt, die versucht haben, sich Zutritt bei mir zu verschaffen. Wiederholt hat man danach getrachtet, mich zu vergiften. Wenn ich nicht so vernünftig wäre, würde ich sogar behaupten, dass unser Kühlschrank sabotiert wurde!“
    „Von diesem verflixten Kühlschrank will ich nichts mehr hören, Gödel! Ich flehe Sie an! Lieber würde ich vor einer McCarthy-Kommission erscheinen.“
    Es war an der Zeit, dass wir gingen, bevor mein Mann sich noch mehr hineinsteigerte. Seine Freunde legten ihm gegenüber absolute Geduld an den Tag, die er zu oft missbrauchte. Meine Geduld war inzwischen unerschütterlich. Ich verzichtete auf meine Wutausbrüche. War die Therapie wirksam gewesen? Ich sage mir gern, dass sie mir die Sinnlosigkeit meines offenen Kampfes vor Augen geführt hat. Ich hatte mich wieder in unsere alte Funktionsweise ergeben: Ich sah zu, wie Kurt auf dem Drahtseil wankte, und schob den Schaumteppich darunter.
    Wut läutert. Aber wer kann langfristig mit ihr leben? Unterdrückter Zorn zehrt aus. Am Ende entweicht er in kleinen, galligen Fürzen, die ein bereits

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