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Die Göttin der kleinen Siege

Die Göttin der kleinen Siege

Titel: Die Göttin der kleinen Siege Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yannick Grannec
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Truthahn auf Anna zukam, begleitet von einer übertriebenen Portion Füllung, wäre die junge Frau fast in Ohnmacht gefallen. Doch sie machte sich nichts vor, sie hatte alles Interesse daran, ihren Teller leer zu essen. Ernestine bedachte alle Gäste mit derselben Großzügigkeit, außer Virginia, der sie mit Verschwörermiene ein mikroskopisch kleines Stück vorsetzte. „Wenn das kein Pech ist – an Thanksgiving Diät zu halten!“ Virginia schenkte dem Tisch eine sehr überzeugend verwirrte Schnute. Professor Sicozzi lächelte übers ganze Gesicht, er schien das Spektakel zu genießen.
    Die Gäste reichten die Platten herum: Kartoffel- und Batatenpüree, schimmernde grüne Bohnen, Mais und goldbraune Semmeln. Leonard kritzelte etwas in ein fleckiges Notizbuch, ohne seinem Teller oder seinen Tischgenossen die geringste Aufmerksamkeit zu schenken. Sicozzi wiederum aß mit einem Appetit, der ganz im Gegensatz zu seinem sehnigen Körper stand.
    „Sie treiben wohl sehr viel Sport.“
    „Ich gehe viel zu Fuß, immer. Ich brauche das, um nachzudenken.“
    Ernestine zeigte ihm das Etikett der Weinflasche – ein 1969er Gevrey-Chambertin, ein wenig leicht zu den Trüffeln, aber er sollte ihn nicht enttäuschen. Andächtig schwenkte der Franzose den Wein im Mund. Der Charmeur hatte Tine schon in die Tasche gesteckt. Mit ihrem tänzelnden Schritt ging sie weg und ließ die Rüschen an ihrem breiten Hintern flattern. Leonard schluckte das gute Tröpfchen hinunter wie ganz normales Sodawasser. Sicozzi beobachtete ihn mit einem dünnen Lächeln.
    „Sie wirken gedankenversunken, Leonard.“
    „Ich hatte eine Idee, ich wollte sie nicht vergessen.“
    „Da haben Sie ganz recht. Bestimmte Kometen ziehen nur ein Mal vorüber. Die besten Hypothesen kommen einem nicht am Schreibtisch. Man muss seine Intuition sprechen lassen, ein jeder hat sie, die Mehrzahl der Leute aber verdrängt sie. Man muss die linke Gehirnhälfte entspannen, damit die rechte umherstreifen kann.“ 35
    „Spielen Sie damit auf die jüngsten Veröffentlichungen von Roger Wolcott Sperry über die zerebrale Asymmetrie an?“ 36
    Von der Verpflichtung entbunden, Konversation machen zu müssen, fragte Anna sich, ob sie die Oberflächlichkeit der ersten Themen bereuen sollte. Sicozzi und Leonard gehörten derselben Zunft an, Anna wartete nur darauf, dass die beiden über ihren Teller hinweg übers „Geschäft“ sprechen und sich nicht mehr um sie kümmern würden.
    „Ich vertraue oft auf meinen rechten Lobus, den Gehirnlappen der Intuition, um eine Sache klarzukriegen. Sie selbst forschen doch in Theoretischer Informatik, wenn ich nicht irre.“
    „Ich bin Kryptoanalytiker, um genau zu sein.“
    „Ihr Vater hat mir über Ihre Entdeckungen auf dem Gebiet der Chiffrierverfahren berichtet. Sie haben sich von seinen Forschungsbereichen entfernt.“
    „Sooft er kann, sagt er mir, dass mein Beruf für ihn irgendwo zwischen Spenglerei und Pannenhilfe angesiedelt sei. Aber das hat Donald Ervin Knuth, Informatiker und Pionier in der Wirkungsweise von Algorithmen für Programmiersprachen, ja selbst schon gesagt.“
    Anna verbat es sich, Leos Undankbarkeit anzusprechen. Calvin Adams sprach nämlich immer voller Stolz von seinem Sohn. Er versuchte sich lediglich in einem Hauch Ironie, um einen Sohn zu töten, der seinerseits nicht auf das Vergnügen verzichtete, den Vater zu kreuzigen. Als er damals besorgt hatte mit ansehen müssen, wie sein genialer Sprössling seine Kapazitäten mit einem zu „technischen“ Studium vergeudete, hatte Leo seinen Vater direkt bezichtigt, seine theoretische Impotenz zu kaschieren, indem er sich für einen Verwaltungsposten beworben hatte. Bevor Calvin aus Dünkel und Bequemlichkeit dieses zeitaufwändige Amt übernommen hatte, war er ein begabter Mathematiker gewesen.
    „Mir gegenüber hat Calvin Ihre Tätigkeiten aber begeistert geschildert.“
    Leo war geschmeichelt von der Aufmerksamkeit des Franzosen und wurde gesprächig. Mit zwei Kollegen arbeitete er an einem neuen System zur Chiffrierung informationstechnischer Daten. Er sprach von „Asymmetrischer Verschlüsselung“, mit der der numerische Datenaustausch geheim bleibt. Obwohl Anna diese Geschichten über „Public-Key-Verschlüsselungsverfahren“ nicht im Mindesten begriff, hörte sie begierig zu, denn unter anderen Umständen hätte Leo sich nicht die Mühe gemacht, ihr seine Forschungen im Detail zu erläutern. Wie oft hatte er sich als Kind aufgeregt, wenn er ihr

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