Die Göttin der kleinen Siege
fühlte sich sehr geschmeichelt, bei diesem Fest dabei sein zu dürfen, zu dem er nicht eingeladen war. Während er ständig sein Grünzeug gemampft hatte, hatte er versucht, sich in die Gespräche einzuschalten, zu denen er genauso wenig eingeladen war. Was war das wieder für eine verdrehte Idee von Hulbeck, uns so einen Spinner aufzuhalsen? Charles war es in keiner Weise peinlich, bei einem ehemaligen Patienten zu Abend zu essen, und er sah auch kein Problem darin, einen anderen Gast mitzubringen.
Schon seit dem Aperitif brachte mein Mann diesem Fremden ein verstörendes Interesse entgegen. Kurt hatte sich auch kaum empört, als der Herr ihm eine gefährliche Parallele zwischen seinem Unvollständigkeitssatz und seinen eigenen soziologischen Forschungen aufgetischt hatte. Kurt hatte mir seine Ansichten zu dieser Frage schon mehrfach dargelegt. Wenn er widersprach und abenteuerlustigen Neophyten in aller Freundlichkeit seine Arbeiten erläuterte, verstanden sie ihn nicht. Sie beharrten auf ihre Positionen und rühmten sich dann, mit dem großen Gödel diskutiert zu haben, wobei Kurt einfach nur höflich gewesen war. Wenn er sich, was seltener vorkam, aufregte und sie mit einem „Versuchen Sie nicht, mit Begriffen umzugehen, die Sie nicht begreifen“ in ihre Schranken wies, galt er als arrogant. Mir gegenüber hielt Kurt sich mit diesem Argument jedoch nicht zurück. Generell spielte er lieber die Rolle des geistig Abwesenden oder des Sonderlings vom Dienst. Leichte Konversation, ein notwendiges Schmiermittel für das Spiel des gesellschaftlichen Lebens, betrachtete er als Zeit- und Energieverschwendung. Die Eitelkeit der anderen war für ihn schwer zu ertragen – er hatte ja schon schwer genug an seiner eigenen zu tragen.
Begierig darauf, bei Tisch zu glänzen, nutzte der Überraschungsgast die allgemeine Trägheit und verstieg sich in einen gewagten Vergleich zwischen Psychoanalyse und Formalwissenschaften. Er versäumte es nicht, Kurt dabei zu bauchpinseln. Hätte Theolonius Jessup die anderen Gäste besser gekannt, hätte er niemals auch nur versucht, einen Zeh in diesen Sumpf zu stecken. Charles, der bis dahin kaum noch die Augen offen halten konnte, fuhr auf, als hätte er einen Kübel kaltes Wasser über den Kopf bekommen. In Wirklichkeit hatte er seit der Vorspeise nur auf den Moment gewartet, loslegen zu können. Er goss sich einen vierten Kaffee ein, gezuckert mit der Lust an der Prahlerei.
„Für mich teilen sich die Psychoanalytiker in mehrere Gruppen, eine jede publiziert ihre eigene Zeitschrift, um darin ihre eigene Art der Gotteslästerung, der Naturbeschimpfung und der Kunstinterpretation darzulegen, wie Karl Kraus es ausdrückte. Die Mathematiker sind das Gegenteil davon.“
Jessup schien die Stichhaltigkeit einer solchen Äußerung aus dem Mund eines Psychoanalytikers selbst zu hinterfragen, beschränkte sich aber auf ein komplizenhaftes Lächeln – wenn es da etwas zu verstehen gab, würden seine Lippenzuckungen als Durchdringung der Materie durchgehen, wenn nicht, dann als Einverständnis. Oskar hüstelte. Oppie und Lilis Mann Erich waren dem Charme meiner Liegestühle erlegen und hatten den Ring verlassen. Kurt hatte lediglich seine leibliche Hülle am Tisch zurückgelassen. Nur Charles wollte die Diskussion am Laufen halten. Wenn sein Hündchen genug gespielt hätte, würde er es bei lebendigem Leib auffressen. Beate, das gute Mädchen, legte eine beruhigende Hand auf die muskulöse Schulter des Schönlings. Ich fragte mich, wie ein Veganer zu so einer Statur kam. Jessup strich den Saum des Tischtuchs glatt, bevor er das vorbrachte, was er beim Essen nicht losgeworden war: „Auch ich bin Therapeut. Bisweilen.“
„Sie sind Psychoanalytiker? Sie sagten doch Soziologe.“
„Um Etiketten kümmere ich mich nicht, Missis von Kahler. Ich betrachte mich als einfachen Lebensberater.“
Ich fand Gefallen an der Sache. Diese Beratungstätigkeit musste sehr lukrativ sein, denn Jessup trug eine teure Armbanduhr, und sein Leinenanzug sah so richtig nach Maßarbeit aus. Als Kunstliebhaber hatte er mehrere Gemälde von Beate gekauft, die eine talentierte Künstlerin war. Laut Albert besaß auch Charles eine beachtliche Kunstsammlung. Seelenklempnerei war also sehr einträglich.
„Wie setzt sich Ihre Kundschaft denn zusammen? Ach, sagt man nicht eher ‚Patienten‘ oder ‚Klientel‘? Kundschaft klingt so nach Metzgerladen.“
„Ich ziehe den Begriff ‚Kreis‘ vor, Missis Gödel. Ich
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