Die Göttin der kleinen Siege
10 308 strebt, müssten hundert Millionen Menschen über tausend Jahre lang an ihren Computern rechnen, um den Code zu knacken.“ 38
„Irgendwann wird jemand eine Methode zur schnellen Identifikation der Primzahlen erfinden.“
„Seit Jahrhunderten beschäftigen sich Mathematiker erfolglos damit. Es ist ein sehr elegantes System.“
Aus lauter Freude zeigte Leo fast die Zähne.
„Wir haben einen Chiffretext, der einen knappen Überblick über eine Codierung mit dem Schlüssel N gibt, als mathematisches Rätsel in der Zeitschrift Scientific American veröffentlicht. N bewegt sich in der Größenordnung 10 129 . Wir waren großherzig.“
„Wie lautet die Nachricht?“
„Entschlüsseln Sie sie! Sie hat im weiteren Sinn mit diesem Truthahn zu tun.“ 39
Lächelnd lehnte Sicozzi das Angebot ab. Er hatte ausreichend viele andere Forschungsgegenstände, mit denen er seine nächsten tausend Jahre verschwenden könnte, er beglückwünschte Leo aber noch einmal zu seinen bahnbrechenden Arbeiten. Anna jedoch sah das Haifischbecken kritisch, in das Leo sich da hineinbegeben hatte. Die National Security Agency NSA, die Sicherheitsbehörde für die weltweite Überwachung, Entschlüsselung und Auswertung elektronischer Kommunikation, sowie alle anderen Akronyme für die militärischen Dienste des Landes würden über ihn herfallen. Sie hatten bereits alle aufkeimenden Netze aufgekauft. Big Brother würde nicht zulassen, dass es eine Ebene gäbe, die nicht binnen weniger Stunden entschlüsselt werden könnte. Was die nationale Sicherheit anging, hatte die Geschichte Anna gelehrt, dass die Achtung der Grundrechte weit hinter nationalen Interessen rangierte, zumindest hinter dem, was gewisse Leute sich anmaßten, darunter zu subsumieren. Alan Turing, der Vater der Informatik und der Kryptoanalyse, hatte dafür mit seinem Leben bezahlt. Anna fragte sich, wie Kurt Gödel auf den technischen Fortschritt reagiert hätte. Hätte es ihm gefallen, dass seine reine Logik auf dem Papier in knapp fünfzig Jahren zu einem heimlichen Guerillakrieg aus Bits und Bytes mutiert wäre?
„Wir leben nun im Informationszeitalter. Informationen werden immer wertvoller.“
„Sie waren immer der neuralgische Punkt des Krieges. Apropos Krieg – darf ich Ihnen helfen, Mademoiselle?“
Anne mühte sich vergeblich, mit ihrem Truthahn fertig zu werden. Sie schob dem Franzosen ihren Teller zu, der sich ohne Umschweife darüber hermachte. Anna hatte nun ausreichend Mathematik zusammen mit Geflügel konsumiert. Sie überließ die beiden Männer ihrem Gespräch. Sie hatte einen Blick in Adeles Geschichte erhascht – ein ganzes Leben in einem fremden Land. Doch Anna hatte Adele gegenüber den Vorteil, dass sie schon von klein auf trainiert worden war, die Gelehrigkeit der anderen schweigend in sich aufzunehmen. Leo bemerkte ihre Abwesenheit gar nicht, er hatte nun einen ebenbürtigen Spielgefährten.
44.
13. April 1955
Der Einäugige,
der Blinde und das Dritte Auge
„,Wie sind des Kaisers neue Kleider unvergleichlich!
Welche Schleppe er am Kleide hat! Wie schön sie sitzt!‘“
Keiner wollte es sich merken lassen, dass er nichts sah;
denn dann hätte er ja nicht zu seinem Amte getaugt
oder wäre sehr dumm gewesen. Keine Kleider des Kaisers hatten solches Glück gemacht wie diese.
,Aber er hat ja gar nichts an!‘, sagte endlich ein kleines Kind.
,Hört die Stimme der Unschuld!‘, sagte der Vater.“
Hans Christian Andersen, Des Kaisers neue Kleider
Ich spülte die Teller ab, bevor ich sie Lili reichte. Beate Hulbeck, die Gattin unseres ehemaligen Therapeuten, mixte uns Verdauungscocktails, Kitty Oppenheimer trank verträumt. Penny, unser English Cocker Spaniel, bettelte um das x-te Leckerli, ich schob sie sanft weg. Dorothy Morgenstern stellte das Radio lauter, ließ dabei aber nicht ihr Baby aus den Augen, das sie in einem Relax -Stuhl auf den Küchentisch gesetzt hatte. Es war sehr warm für einen Frühlingsnachmittag, das Kind spielte mit seinen nackten Füßen. Ich hatte eine irre Lust, zu ihm zu gehen und seine Füße zu knutschen!
„Kennt ihr Chuck Berry? Das nennt man Rock ’n’ Roll.“
Ich konnte mich für die neue Musik der Schwarzen nicht sonderlich begeistern, aber meine Füße bewegten sich von allein. Instinktiv wussten sie den Rhythmus zu schätzen. Der Jazz meiner Jugend kam nun verdammt altbacken daher. Ich mochte die Musik meiner Zeit nicht mehr, meine Pumps hatte ich schon lange an den Nagel gehängt. Auch von
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