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Die Göttin der kleinen Siege

Die Göttin der kleinen Siege

Titel: Die Göttin der kleinen Siege Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yannick Grannec
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widersprechen lassen. Es war keine Überraschung, dass er gleich darauf in allen Einzelheiten das Epos der „Turingmaschine“ sang, Fundament des heutigen Computers. Ende der Dreißigerjahre hatte sich Turing ein theoretisches System ausgedacht, das einfache Algorithmen ausführen kann. Danach war ihm die Idee einer universellen Metamaschine gekommen, die bis in die Unendlichkeit alles nur Denkbare errechnen könnte. Anna hatte an der Vorbereitung einer Ausstellung über John von Neumann und ENIAC, den anderen großen Sprung in der Geschichte der Informationstechnik, mitgewirkt. Sie hätte Leo über dieses Thema also einiges erzählen können, aber es gab so selten Gelegenheit für sie, ihm zuzuhören, wenn er sich für etwas begeisterte, dass sie dafür durchaus ein wenig Eigenliebe opferte. Sie war kurz davor, ein „Wie stark du bist!“ auszustoßen. Der Scherz hätte ihm nicht gefallen, und er brauchte niemanden, um sich bestätigt zu fühlen. Und „Adeles Theorem“ bei einem Träger der Fields-Medaille auszuprobieren hätte sie niemals gewagt.
    „Indem Alan Turing die Grenzen seines Systems immer mehr erweiterte, begriff er, dass sein Apparat nur eine bereits existierende Antwort geben konnte – er war nicht in der Lage zu entscheiden, ob bestimmte Fragen entscheidbar sind. Das heißt, er konnte innerhalb einer endlichen Zeit nicht definieren, ob eine Aussage wahr oder falsch ist.“
    „Der Unvollständigkeitssatz ist unumgehbar, selbst für eine Maschine.“
    „Und du, Anna Roth, interessierst du dich für Mathematik?“, fragte Ernestine.
    „Ich bin mir nicht sicher, ob ich alles verstanden habe, aber Adele hat mir von dem angeblichen Treffen ihres Mannes mit Turing erzählt.“
    Ernestine lächelte ihr hämisch zu, dann machte sie sich wieder daran, mit ihren Schranktüren zu klappern – auch sie kannte die Methode.
    „Du solltest darüber ein Buch schreiben, Anna. Das heldenhafte Leben der Pioniere des Informationszeitalters. Gödel, Turing, von Neumann …“
    Anna errötete, als Pierre ihr Glas mit dem seinen anstieß.
    „Leos Idee klingt hervorragend. Sie haben persönlichen Zugang und sitzen an der Quelle der Geschichte.“
    „Adele ist keine Wissenschaftlerin, sie hat eine emotionale Sicht der Dinge.“
    „Das Leben ist keine exakte Wissenschaft. Der Mensch ist mehr als die Summe seiner Handlungen. Mehr als eine einfache chronologische Abfolge.“
    „Ich bin Dokumentarin, ich sammle Fakten, objektive Fakten.“
    „Vertrauen Sie auf Ihr Gespür.“
    „Das wäre dann Fiktion.“
    „Warum sollte es nicht eine Wahrheit unter anderen sein? Entweder gibt es gar keine Wahrheit, oder … nicht alle Wahrheiten sind beweisbar.“
    Sicozzi verzog die Lippen zu seinem dünnen, wirren Lächeln.
    „Diese lyrische Erweiterung des Unvollständigkeitssatzes hätte unser verstorbenes Genie schaudern gemacht.“
    „Ich glaube, das habe ich verstanden! Es ist unkorrekt, auf anderen Gebieten einen formallogischen Beweis zu führen.“
    „Entspannen Sie sich, Anna. Dass ich Mathematiker bin, nimmt mir nicht die Freude an der Musik, an einem guten Roman, an diesem leckeren Kuchen oder diesem köstlichen Gevrey-Chambertin. Wiewohl Worte die Komplexität seines Bouquets unmöglich ausdrücken können.“
    „Sie sind ein Genießer.“
    „Ich füttere das launische Tierchen meiner Intuition mit allen Sinnen.“
    „Auch mit Belletristik?“
    „Für mich hält sie wie auch die Lyrik den Schlüssel zum Universellen, ausgehend vom Konkreten. Übrigens haben Mathematik und Poesie vieles gemeinsam.“
    Gereizt zuckte Leo auffällig mit den Schultern.
    „Kurt Gödel misstraute der Sprache.“
    „Er erforschte eine andere Art der Kommunikation, formale Instrumente, mit denen in unserer sinnlich erfahrbaren Welt, unserer Realität, ein immanentes mathematisches Universum konzeptualisiert werden kann. Für ihn war der Geist größer als die Summe, wie hoch auch immer, seiner Schaltverbindungen. Kein Computer kann diesen Zustand der Intuition oder Kreativität erreichen.“
    Leo kochte – so ein Thema verlangte mehr Genauigkeit und weniger Rhetorik. Gödel hatte zwei Vorstellungen miteinander vereint. Wenn das Gehirn eine Turingmaschine wäre, unterläge es denselben Grenzen und es gäbe unentscheidbare Aussagen. Die Mathematik oder die Welt der Ideen im platonischen Sinn würde also für die Menschheit ein unzugänglicher Bereich bleiben. Wenn aber das Gehirn eine unendlich komplexere Maschine wäre und

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