Die Göttin der kleinen Siege
Schemata bearbeiten könnte, die für ein Gerät unbegreiflich sind, besäße der Mensch damit ein Steuerungssystem, das nicht von der Verstandestätigkeit beeinflusst wird. Da man dieses System nicht lokalisieren kann, nannte man die Fähigkeit, sich selbst über die Sprache hinaus, ja sogar über die formale Sprache der Mathematik hinaus zu denken, eben einfach „Intuition“.
Pierre Sicozzi hörte ihm aufmerksam zu, immer mit diesem leichten, unergründlich ironischen Lächeln auf den Lippen.
„Also übersteigt der Geist grundsätzlich die Materie, Leonard.“
„Bis zum Beweis des Gegenteils. Wir sprechen hier von einem Bereich, der einer phänomenalen Entwicklung unterworfen ist. Der Computer von morgen wird Kurt Gödel vielleicht widerlegen.“
„Sie predigen für Ihre digitale Gemeinde. Das Mooresche Gesetz – Gordon Earle Moore, Mitgründer der Firma Intel , sagte 1965 eine Verdoppelung der Prozessorleistung alle anderthalb Jahre voraus – ist lediglich eine vage Vermutung, um die Wirtschaft mit der Perspektive auf grenzenloses Wachstum zu ködern. Meiner bescheidenen Meinung nach muss die Informatik ihre Rolle aufseiten der Verifizierung spielen. Für Entdeckungen in der Mathematik kommt nichts an ein Heft und einen Bleistift heran, so wie auch Sie naturgemäß arbeiten.“
„Dennoch scheinen die Möglichkeiten unendlich zu sein.“
„Was ist die Unendlichkeit, verglichen mit diesem feinen Dessert?“
„Das hängt von der jeweiligen Unendlichkeit ab.“
„Noch eine Gödelsche Frage. Alle Wege führen zu Gödel, nicht wahr, Anna?“
„Wollen Sie noch das letzte Stück, Monsieur Sicozzi?“
„Meine liebe Ernestine, wir stoßen hier nicht an die Grenzen meines Geistes, aber meines Magens. Ich gebe auf, Sie haben mich besiegt.“
Er bemerkte Annas Geschenk auf dem Tisch. Er schlug den Band aufs Geratewohl auf und las mit seiner melodischen Stimme ein paar Verse auf Französisch:
ES WÄRE
schlimmer
nicht
mehr oder weniger
ununterscheidbar doch gleichviel
DER ZUFALL
Leo goss sich ein Glas ein und murmelte: „Was ist das für ein Wortsalat? Ich verstehe kein Französisch.“
„Es würde mir leichter fallen, Ihnen noch einmal den Unvollständigkeitssatz zu beweisen, als Ihnen Mallarmé nahezubringen, Leo. Es geht um Gefühle. Um das Vergnügen aneinanderstoßender Laute. Die weiße Seite und die schwarzen Stellen der Lettern dieses Kalligramms beziehen sich aufeinander.“
Er zeigte ihm das Layout des Gedichts, eine fransige Wolke aus Groß- und Kleinbuchstaben.
„Eine geniale Intuition der Natur ebendieser unserer physischen Welt. Leere, in der ein paar Körnchen des Zufalls tanzen.“
„Wenn das so ist, dann beinhalten auch Tines Rezeptbücher einen verborgenen Sinn der Welt.“
„ Mécréant !“ – Ungläubiger. „Sind Sie etwa auch nur eine Turingmaschine? Wie kann man die Inhaltsfülle eines Satzes wie Ein Würfelwurf wird nie aufheben den Zufall nicht erkennen?“
„Ich glaube nicht an den Zufall. Nur an Algorithmen. Für einen Mathematiker lieben Sie die Wörter zu sehr.“
„Wenn mathematische Inspiration einer Pizza entspringen kann, warum dann nicht auch einem Gedicht von Mallarmé?“
Calvin Adams erschien in der Tür. Er sah aus wie ein Mann, der gerade feststellt, dass sich das eigentliche Fest woanders abspielt, ohne ihn.
„Diese jungen Leute nehmen Sie zu sehr in Beschlag, Pierre.“
„Überhaupt nicht. Wir Franzosen landen am Ende immer in der Küche.“
Calvin entschuldigte sich, dass er ihn dem Zauber der guten Ernestine entreißen musste, sie hatten jedoch noch die Einzelheiten der übermorgigen Tagung durchzugehen. Sicozzi erhob sich mit Bedauern. Er gab den beiden Frauen einen Handkuss und drückte Leonard herzlich die Hand, der sich seinerseits wenig höflich gab. Calvin nahm seinen Sohn an der Schulter und bat ihn, sich mit aller gebotenen Höflichkeit vom Richardson-Erben zu verabschieden. Leo riss eine Seite aus seinem Notizbuch, kritzelte eine Telefonnummer darauf und gab Anna wortlos den Zettel. Sie steckte ihn in die Tasche und schwor sich, keinen Gebrauch davon zu machen. Er hatte sich kein Jota verändert, und für den Moment reichte das Ego eines verstorbenen Mathematikers aus, um ihr das Leben schwer zu machen.
Als wieder wohlige Stille in die Küche eingekehrt war, mixte Tine sich einen Punsch in einem winzigen Facettenglas und zündete sich eine Zigarette an. Für Anna war es Zeit, zu gehen. Ihre Freundin belud sie mit
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