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Die Göttin der kleinen Siege

Die Göttin der kleinen Siege

Titel: Die Göttin der kleinen Siege Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yannick Grannec
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Drei verstrahlte Atomphysiker sind dem Tode geweiht. Sie dürfen ihre letzten Wünsche äußern … Was hatte John sich gewünscht? Er wollte weder Marilyn Monroe treffen noch den Präsidenten und auch keinen anderen Arzt – er wollte weiterarbeiten. Er ließ sich auf einer Trage ins Labor bringen. Was hatte sich Einstein gewünscht? Frieden. In einem Brief an Bertrand Russell hatte er sich bereiterklärt, ein neues Manifest zu unterzeichnen, in dem alle Nationen dringend aufgefordert werden, auf den Einsatz von Nuklearwaffen zu verzichten. Als er im Krankenhaus mit einem geplatzten Aneurysma daniedergelegen hatte, hatte Bruria ihm unbedingt seine aktuellen Unterlagen bringen müssen. Einstein hatte geschrieben: „Politische Leidenschaft verlangt ihre Opfer. Protestieren, mahnen, arbeiten, suchen – kämpfen bis zum letzten Atemzug.“
    Manchmal fragte ich mich, was der letzte Wunsch meines Mannes wäre. Ich fürchtete, dass er es nicht mehr sehr lange machen würde. Ohne Albert war Kurt nun in Einsamkeit gefangen. Morgenstern und Oppenheimer unterstützten ihn zwar, wo sie konnten, aber sie blickten nach vorn, sie hatten Kinder, sie hatten Pläne. Obwohl Kurt mit ein paar Logikern verkehrte, mit Karl Menger, Georg Kreisel und dem jungen Hao Wang, den er besonders schätzte, war mein Mann einfach eine andere Spezies – ein weißer Tiger unter Löwen. Albert war einer der wenigen gewesen, die ihm das Wasser reichen konnten. Kurt war der Fremde, dieses Jahrhundert und diese Welt waren ihm fremd. Selbst sein Körper war ihm fremd.
    „Soll ich dir die New York Times bringen?“
    „Ich muss mich um die Stipendienanträge kümmern. All diese administrativen Verpflichtungen lasten auf mir. Und dann muss ich noch diesen Artikel über rekursive Funktionen abschließen.“
    „Das kann alles warten.“
    „Ich bin bereits in Verzug.“
    „Wie immer.“
    „Gestern Abend bin ich vor Alberts Büro in der Fuld Hall stehen geblieben. Es ist noch nicht wieder vergeben worden.“
    „Das wird keiner wagen. Trotzdem – das Leben geht weiter.“
    Kurt holte seine Arzneidose heraus. Er reihte auf dem Deckel ein gutes Dutzend kleiner Pillen auf, dann schluckte er sie mit etwas Magnesiamilch hinunter. In seiner Decke sah er aus wie eine Mumie, wie ein altersloser Körper. Ich setzte mich mit meinem Flickzeug neben ihn. Penny versuchte, eine Garnrolle aus dem Nähkorb zu ziehen.
    „Der Tee ist zu stark. Haben sie angerufen?“
    Ich sah auf meine Armbanduhr.
    „Sie sind gerade mal gelandet. Lass ihnen Zeit, anzukommen.“
    „Sie haben den ersten Schritt gemacht. Nun können sie öfter kommen.“
    „Tolle Aussichten!“
    Bald hätte ich wieder die Muße, nach Europa aufzubrechen. Die Reisen fehlten mir, und ich machte mir nichts vor – meine Mutter hatte nur noch wenige Monate zu leben. Ich opferte diesem Umstand nur wenig Intimsphäre, Kurt und ich hatten schon lange getrennte Schlafzimmer. Unser gesellschaftlicher Umgang, der ohnehin schon gering war, franste weiter aus wie meine Haare, die ich jeden Morgen büschelweise aus dem Waschbecken fischte.
    Kurt nahm meinen Nähkorb. Er attackierte die unzulänglichen Garnrollen und stellte dort, wo es ganz unnötig war, so etwas wie eine Ordnung her.
    „Du bist aber auch schlampig, Adele! Sieh dir diese Fäden an!“
    „Ich höre das Telefon.“
    Seit Alberts Tod lebte Kurt in einem Zustand der Verblüffung. Sein Freund konnte doch gar nicht sterben! Sein Dahinscheiden war unvereinbar mit der Logik. Der kleine Herr Warum stellte sich noch immer verstörende Fragen. „Ist es nicht merkwürdig, dass Einsteins Tod kaum vierzehn Tage nach dem fünfundzwanzigjährigen Gründungsjubiläum des Instituts erfolgte?“ Meine Antwort war unter seiner Würde: Der Tod ist logisch, weil er Teil der Ordnung der Dinge ist. Wieder einmal weigerte Kurt sich, zu essen und zu schlafen. Ohne seinen Beutel voller Medikamente ging er nirgendwo mehr hin. Wieder hatte er das innere Exil gewählt.
    „Ein Student wollte dich wegen seines Stipendiums sprechen. Ich habe ihm gesagt, dass du heute keine Zeit hast.“
    „Das hast du gut gemacht. Ich werde ständig belästigt.“
    Er übertrieb. Sein Ruf, dass mit ihm nicht gut Kirschen essen sei, reichte schon aus, um sich Nervensägen vom Leib zu halten. Er kratzte sich am Kopf. Die Wollmütze verursachte ihm schrecklichen Juckreiz, aber er wollte sie partout nicht ablegen. Er war nun fertig mit der Neuordnung der Garne und betrachtete seine leeren Hände.

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