Die Göttin der kleinen Siege

Titel: Die Göttin der kleinen Siege Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yannick Grannec

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Ich lächelte, als ich an Alberts bizarre Strategie dachte, mit der er lästige Personen vertrieb: Er ließ sich Suppe bringen. Wenn er das Gespräch fortsetzen wollte, schob er den Teller zurück. Wenn nicht, behielt er den Teller, und seine Sekretärin Helen wusste dann, dass es Zeit war, den Besucher zur Tür zu bringen. In Anbetracht seines Ansehens hätte Albert direkter sein können. Kurt hingegen machte Termine aus, zu denen er dann nicht erschien. Diese kleine Gemeinheit erstaunte mich nicht.
    „Du solltest einen Mittagsschlaf machen, Kurt, damit du heute Abend fit bist.“
    „Der Schlaf flüchtet vor mir.“
    „Du bewegst dich ja auch nicht, du gehst nicht mehr zu Fuß.“
    „Mit wem sollte ich auch spazieren gehen?“
    Ihn an meine Wenigkeit zu erinnern wäre sinnlos gewesen. Die Spaziergänge mit Albert vermisste er mehr als ihre langen Streitgespräche.
    „Ach, ich höre etwas – meine Mutter ist aufgewacht.“
    Schwerfällig stand ich vom Liegebett auf. Meine Knie ließen mich oft im Stich. Die Erde ist weit unten, wenn das Tier groß ist, meine Freunde!

    Kurz nach Alberts Tod hatte Kurt Einsteins Assistentin Bruria Kaufmann geholfen, die Papiere in dessen Büro am IAS zu sortieren. Anstelle eines Abschiednehmens hatte er sich in diese Aufgabe geschickt. Albert war am 18. April 1955 im Schlaf verschieden. Er war noch am selben Tag in Trenton verbrannt worden, seine Freunde hatten seine Asche heimlich verstreut. Einstein hatte gefürchtet, dass sein Grab zu einer „Wallfahrtsstätte“ werden würde, „wohin Pilger kommen würden, um die Knochen eines Heiligen zu bestaunen.“ Zu Lebzeiten hatte er sich immer dagegen verwahrt, zum Idol zu werden, und er wollte post mortem nicht ausgestopft werden. Doch so sollte es kommen.
    Ich setzte Hildegarde in einen Sessel im Schatten, legte ihr eine Decke auf und gab ihr einen Teller mit Crackern, damit ihre Hände beschäftigt waren. Penny wusste, dass sie leichtes Spiel mit meiner Mutter hatte, und sprang jaulend vor Freude um sie herum. Kurt erkundigte sich nach ihrem Befinden – weniger weil es ihn wirklich interessierte, sondern weil er sonst nichts zu tun hatte. Sie musterte ihn misstrauisch, dann ignorierte sie ihn. Dem Hund gab sie einen Cracker.
    „Seit heute Morgen erkennt sie mich nicht mehr. Sie hält mich für Liesl.“
    „Ich könnte es nicht ertragen, meine Mutter so zu sehen.“
    Ich enthielt mich geflissentlich eines Kommentars. Marianne würde mit Sicherheit hundert werden! Zähes Fleisch hält länger. Meine arme Mama verlosch langsam in kräftezehrender geistiger Verwirrung, sie verlief sich, erbrach das Essen oder machte in die Hose. Kurt hatte schreckliche Angst, auch dement zu werden. Mit zweiundfünfzig Jahren dachte er, sein Leben sei vorüber. Seit mehr als zwanzig Jahren musste ich mir diese Leier anhören. Einen Kinderwagen hatte ich nicht gebraucht – zwischen meinem Mann und meiner Mutter hatte ich nur einen Rollstuhl bekommen. Mein Schicksal hatte mich ergrauen lassen.
    „Adele, deine Mutter sabbert.“
    Ich stand auf, um sie wieder aufrecht hinzusetzen und ihr den Mund abzuwischen.
    „Klingelt das Telefon nicht?“
    „Du solltest besser arbeiten, als hier in deinem Saft zu schmoren.“
    „Und immer daran denken, dass sie in knapp einer Stunde kommen? So kann ich mich doch nicht konzentrieren.“
    „Dann setz dich ins Wohnzimmer. Hör Musik. Sieh fern. Hast du nicht noch Post zu erledigen?“
    „Dazu habe ich keine Lust. Bist du sicher, dass das Telefon nicht klingelt?“
    Als Kurt sich im Büro seines toten Freundes eingeschlossen hatte, versuchte er, sich von ihm zu verabschieden. Er sichtete Berge von Papieren und suchte darin eine letzte Spur des Genies. Doch Albert hatte seine Kartons nur mit nichtssagenden Gleichungen gefüllt. Getrübt vor Staub und Trauer, war Kurt nach Hause gekommen. Auch er brauchte jemanden, den er bewundern konnte. An Albert hatte Kurt dessen allmächtigen Glauben geliebt, diese Energie, die er in die Forschung, in den Kampf steckte. Doch in diesem Stapel vergilbter Papiere hatte Kurt seine eigenen Schwächen wiedererkannt, und dieser Kampf war nicht mehr der seine. Er war nicht mehr der junge Recke, der die Dunkelheit durchdrang. Er war schon lange ein alter Mann.
    Einstein hatte seinen Weißen Wal nicht gefangen. Jahrelang hatte er vergeblich seine Studien zur Grand Unification betrieben, der Großen Vereinheitlichten Theorie, 43 die alle Grundkräfte zusammenfasst und sie mit der