Die Göttin der kleinen Siege

unbequemen Gravitation vereinigt, wie er mir einmal an einem Abend in ferner Vergangenheit erklärt hatte. Die Quantenmechanik hatte für ihn nie eine zufriedenstellende Beschreibung der physischen Welt geliefert. Am Ende seines Lebens war Albert zu einem achtbaren „Museumsstück“ geworden. Der alles überrennende Aufschwung der Quantenphysik hatte den Vater der Relativitätstheorie in die Rolle der Vorstandsdame eines Wohltätigkeitsvereins verwiesen – er übergab den neuen, aktuellen wissenschaftlichen Stars Blumen. Die Schwerkraft würde diese beiden Welten weiterhin spalten wie ein Apfelkern, der im Getriebe der kosmischen Maschinerie festsaß. Newton lachte sich da oben wahrscheinlich tot. Wenn es jemanden gab, der diesen „grandiosen Mechanismus“ des Universums beweisen und zurückverfolgen konnte, dann müsste er es gewesen sein, Albert Einstein. Im Zusammenspiel aller Naturkräfte, die von der infinitesimal kleinen bis zur unendlich großen Kraft aufeinander abgestimmt waren, hatte er den Geist Gottes erahnt. Er hatte wissen wollen, wie Gott dachte, alles andere waren für ihn Bagatellen gewesen. Er hatte nun die letzte Sprosse der Jakobsleiter erreicht, deren Spitze zu Füßen des großen Vaters endet. Bestimmt hatte er inzwischen die alles umfassende Wahrheit entdeckt, dabei aber für immer die Möglichkeit verloren, sie mitzuteilen.
    Und mein Mann hatte sich in das Geheimnis von Alberts Büro vorgewagt. Hatte er versucht, diesen Vater zu übertreffen? Oder wusste er, dass die Suche vergeblich wäre? Pauli hatte den Platz des Paterfamilias übernommen, aber er würde die Fackel nicht sehr lange halten. Kurt konnte sich nicht dazu entschließen, die Tafel seines alten Freundes zu putzen. Die Kreide würde mit der Zeit verblassen. Die Entropie würde sich des Schiefers annehmen, Albert hatte sie sich bereits geholt.
    „Das war das Radio des Nachbarn. Ich habe ihn gebeten, es während deines Mittagsschlafs leiser zu stellen.“
    „Ich habe ihn dabei ertappt, wie er über die Hecke geschielt hat. Ich traue diesem Mann nicht. Es war richtig, dass wir das hintere Grundstück dazugekauft haben. Wer weiß, was uns da ins Haus gestanden wäre?“
    „Ein bisschen weniger Ruhe.“
    „Hast du ausreichend Fleisch gekauft? Rudolf hat einen gesunden Appetit.“
    „So viel, dass ich den Gödelschen Stammbaum bis hinunter zu den Wurzeln füttern kann.“
    „Und was gibt es dazu?“
    „Was kümmert es dich? Du isst doch eh nichts.“
    „Ich möchte, dass sie sich bei mir wohlfühlen.“
    „Bei uns!“
    Um wenige Monate hatte Einstein die Geburt seines Urenkels verpasst. Er hatte sowieso noch nie ein gutes Verhältnis mit seinem Sohn Hans Albert gehabt. Alle seine Beziehungen, auch die zu seinen Frauen und Kindern, waren zerbrochen. 44 Sex und Wissenschaft waren ihm zu wichtig gewesen, als dass er sich mit einer Familie hatte belasten wollen. Kurt hasste es, wenn ich so über seinen alten Gefährten redete. Für ihn war und blieb Albert die personifizierte Freundschaft. Er warf sich oft vor, sich nicht genügend um Alberts Gesundheit gekümmert zu haben. Er stellte seine Erinnerungen unter eine Glasglocke. Er konnte sich nicht über Alberts Tod hinwegtrösten, weil er dabei an die Unvollkommenheiten seines eigenen Lebens denken musste. Einstein hätte sich über diese sentimentale Götzenanbetung lustig gemacht. Ich für meinen Teil hatte mich immer vor selektiver Erinnerung gehütet – sie verlängert nur die Trauer.
    „Wo hast du die Euklid-Büste hingestellt, die er mir geschenkt hat? Sie steht nicht mehr im Wohnzimmer.“
    „Sie ist im Keller, zusammen mit der von Newton. Von ihren leeren Augen habe ich Beklemmungen bekommen. Ich habe sie nebeneinandergestellt, dann können sie sich unterhalten.“
    „Sie warten auf uns, sie werden uns da oben das Fell über die Ohren ziehen.“
    „Sei nicht so makaber! Schwarzer Humor steht dir nicht, Kurtele.“
    Er sprang aus dem Liegestuhl.
    „Jetzt habe ich aber wirklich das Telefon gehört!“
    Für mich war Einstein weiterhin ein Mann von Fleisch und Blut. Ich konnte noch sein dröhnendes Lachen hören, sah seinen halb offenen Schlafrock und sein struppiges Haar. Ich konnte ihm nie böse sein. Er erzählte mir zotige Witze oder machte abfällige Bemerkungen, dann nahm er meine Hand und gewann meine Zuneigung mit einem Lächeln zurück. Ich liebte ihn wie den Schwiegervater, den ich nie kennengelernt hatte. Ich liebte seine Widersprüchlichkeiten: Er