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Die Göttin der kleinen Siege

Die Göttin der kleinen Siege

Titel: Die Göttin der kleinen Siege Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yannick Grannec
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aus.“
    „In der Mathematik nennt man so etwas Inkonsistenz. Bei dir, Adele, geht es hingegen um Widersprüche. Ich habe gerade bewiesen, dass es mathematische Wahrheiten gibt, die man nie beweisen kann. Das nennt sich Unvollständigkeit.“
    „Ist das alles?“
    Die Ironie konnte keine Brücke zwischen uns schlagen, Kurt nahm sie als einen Fehler in der Kommunikation wahr. Manchmal war er dadurch gezwungen, eine andere Formulierung, eine verständliche Darstellung zu finden. Diese seltenen Bemühungen waren wahre Liebesbeweise: eine vorübergehende Erholung vom Joch der Vollkommenheit.
    „Stell dir ein Wesen mit ewigem Leben vor, das seine Unsterblichkeit der Überprüfung mathematischer Wahrheiten widmet und definiert, was richtig und was falsch ist. Es würde seine Aufgabe nie erfüllen können.“
    „Mit einem Wort: Gott.“
    Er verharrte kurz im Schritt, der ausgetretene Boden störte den Weg, den er für sich festgelegt hatte.
    „Mathematiker sind wie Kinder, die kleine Bauklötze von Wahrheiten aufeinanderstapeln und so die Mauern hochziehen, die die Leere des Universums füllen. Sie fragen sich, ob die eine oder andere Mauer tatsächlich hält oder ob sie nicht alle zusammen einstürzen. Ich habe bewiesen, dass die kleinen Bauklötze bei einem bestimmten Teil der Mauer nicht einsehbar sind. Somit kann man niemals verifizieren, dass die Mauer hält.“
    „Böser Bub! Das ist aber gar nicht nett, die Spiele der anderen kaputt zu machen.“
    „Es ist auch mein Spiel, aber ich hatte anfangs nicht vor, es kaputt zu machen, ganz im Gegenteil.“ 3
    „Warum wendest du dich dann nicht wieder der Physik zu?“
    „Auf diesem Gebiet ist alles unsicher, vor allem zurzeit. Es dir zu erklären würde zu weit führen. Die Physiker sind eher in der Akkumulierung begriffen. Sie suchen den größten Kübel, der die Kübel der früheren Kollegen aufnehmen kann. Sie suchen universellere Theorien.“
    „Die einen oder anderen versuchen jedenfalls, beim Pinkeln weiter zu spritzen als ihre kleinen Kameraden.“
    „Meine Kollegen würden deine Sicht der Wissenschaftler gewiss zu schätzen wissen, Adele.“
    „Sollen sie doch kommen! Ich werde ihnen schon beibringen, wie es im Leben läuft.“
    Er spielte kurz mit dem Gedanken, mich zur Strafe in die gedämpften Räume der Universität zu schicken, aber dies reichte nicht aus, um ihn zu entspannen.
    „Ich genieße ihre Achtung nicht, ich weiß, was sie hinter meinem Rücken über mich erzählen. Sogar Wittgenstein 4 hält mich für einen Taschenspieler, für einen Manipulator von Symbolen, dabei fürchtet er doch die Positivisten.“
    „Der hat doch nicht alle Tassen im Schrank! Überlässt sein Vermögen irgendwelchen Dichtern und haust selbst in einer Hütte. Und so einem Kerl willst du vertrauen?“
    „Adele!“
    „Ich will dich nur zum Lachen bringen, Kurt, aber ich sehe schon, dass wir vor einer on-to-lo-gi-schen Unmöglichkeit stehen.“
    „Hast du dieses Wort in der Garderobe des Nachtfalter gelernt?“
     
    Wir kamen an die Ecke seiner Straße. Schon von Weitem sah ich die erleuchteten Fenster – seine Mutter schlief nie, bevor sie nicht seine Schritte in der Diele hörte. Wenn er nicht nach Hause kommen würde, würde er sie zur Schlaflosigkeit verdammen. Wir machten Scherze darüber. Manchmal. Heute Nacht wäre ich zur Einsamkeit verdammt.
    „Kurz zusammengefasst: Mit deiner Logik hast du bewiesen, dass die Logik Grenzen hat?“
    „Nein, ich habe die Grenzen der formalen Logik aufgezeigt, die Grenzen unserer aktuellen mathematischen Formelsprache.“
    „Dann hast du ja ihre ganze Scheißmathematik gar nicht in die Tonne getreten, du hast ihnen lediglich gezeigt, dass sie niemals Götter werden können.“
    „Lass Gott aus der Sache heraus. Ich habe an ihrem Glauben an die Allmacht mathematischen Denkens gerührt. Ich habe Euklid getötet, habe Hilbert niedergeschlagen … Ich bin ein Frevler.“
    Er holte seinen Schlüsselbund aus der Tasche – mit dieser Geste war die Diskussion für gewöhnlich beendet: Geh nicht zu nahe ans Haus, meine Mutter könnte dich vom Fenster aus sehen.
    „Ich muss meinen Vortrag besser vorbereiten. In zwei Tagen treffe ich mich unter vier Augen mit dem deutschen Philosophen Rudolf Carnap.“
    „Mit dieser Kröte, die sich für bedeutender hält als …“
    „Adele! Carnap ist ein guter Mann, er hat mir sehr geholfen.“
    „Ein Roter! Er wird bestimmt bald Scherereien bekommen.“
    „Du verstehst nichts von

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