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Die Göttin der kleinen Siege

Die Göttin der kleinen Siege

Titel: Die Göttin der kleinen Siege Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yannick Grannec
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Politik.“
    „Ich weiß, was auf der Straße gesprochen wird. Und das, was ich höre, ist nicht gut für euch Schlauberger, glaub mir.“
    „Ich habe auch so schon genügend Sorgen, Adele. Ich bin sehr müde.“
    Er steckte die Schlüssel wieder in die Tasche – wir würden also zusammen schlafen, und Marianne müsste heute Nacht warten.
    „Endlich nimmst du Vernunft an!“
    „Ich kenne nur einen Weg, dich zum Schweigen zu bringen.“
     
    Kurt hatte die Hoffnungen seiner Meister zerstört – nicht die Hoffnung, die sie in ihn gesetzt hatten, sondern die Hoffnung auf ihre eigene Allmacht. Seine Positivistenfreunde wollten das „Unsagbare“ reduzieren, alles, was mit der natürlichen Sprache nicht gesagt werden kann. Indem Kurt seine mathematische Forschung auf die einzige Methode beschränkt hatte, hatte er sie geködert – und er hatte ihnen ein zerstörerisches Resultat geliefert, konstruiert mit ebendieser Sprache, die er hätte konsolidieren sollen.
    Kurt war nie ein blinder Jünger des positivistischen Wiener Kreises, er erwies sich geradezu als Wolf in diesem Schafstall. Aber in dieser kleinen Welt musste er sich einen Platz schaffen. Er brauchte den Kreis als Anregung und um sich nicht vom Zeitgeist forttragen zu lassen. Vielleicht hatte er ja auch das an mir gemocht: meine Arglosigkeit. Ich vertraute mit größter Selbstverständlichkeit meinem Gespür. Meine Beine gefielen ihm, ich hielt ihn in meiner glückstrahlenden Unwissenheit fest. Er sagte: „Je mehr ich über die Sprache nachdenke, desto sonderbarer kommt es mir vor, dass sich die Leute jemals verstehen.“ Er hingegen äußerte sich nie vage. In den Kreisen dieser Schönredner schwieg er lieber, als etwas Falsches zu sagen. Er war demütig gegenüber der Wahrheit. Diese Tugend besaß er in schädlichem Maß: Aus Angst vor falschen Schritten vergaß er weiterzugehen.
     
    Die Bombe existierte, aber sie war ein Spätzünder. Nicht nur ich konnte sie nicht begreifen. Sogar die Werkzeuge der Beweisführung waren Neuerungen, und selbst die begabtesten Mathematiker jener Zeit mussten das alles erst einmal verarbeiten. Auf dem so sehnlich erwarteten Kongress schluckte Kurt vor solchen Schwergewichten wie dem Physiker Werner Heisenberg seinen Ärger hinunter. Der Allesfresser Johann von Neumann griff ein und unterstützte ihn, aber in den Kongressprotokollen taucht Kurts Name nicht einmal auf.
    Doch binnen weniger Monate hatten sich seine Resultate durchgesetzt und konnten danach nicht mehr ignoriert werden. Beweis dafür waren die vielen Gegner, die verbissen deren Fehlbarkeit suchten. Die Explosion der Bombe war auch jenseits des Atlantischen Ozeans zu hören und kam als Echo in Form einer Einladung zu einem Aufenthalt in Princeton – und somit einer möglichen Trennung – zu uns zurück. In der Zwischenzeit hatte ich gesehen, wie die Zweifel sich in Kurt eingenistet und ihn nie wieder verlassen hatten.
    Mit der Zeit fühlte er sich unverstanden. Er, das kleine Genie, das gehätschelte Kind. Der brillante Schweiger inmitten der Redseligen, der Politiker, der Neunmalklugen. Er dachte, er hätte eine Insel der Glückseligkeit unter den Seinen gefunden. Sicherlich hatte er treue Freunde gewonnen, aber auch unvermuteten Hass auf sich gezogen und unter Schmerzen die Gleichgültigkeit entdeckt. Ich war an seiner Seite, zärtlich und greifbar, aber ich hatte mich mit viel zu wenig Waffen in den Kampf gestürzt: Einen metaphysischen Abgrund kann man nicht mit Apfelstrudel füllen.
    Die Welt um uns herum verkam. Kurt hatte weit vor der Zeit mit diesem Jahrhundert abgeschlossen. Zweifel und Unsicherheit bildeten dessen neue Fundamente. Kurt war seiner Zeit immer voraus gewesen.

9.
    Völlig durchnässt kam Anna in Adeles Zimmer, die Besuchszeit war fast schon vorüber.
    „Sie kommen spät; das ist gar nicht Ihre Art.“
    „Ich freue mich auch, Sie zu sehen, Missis Gödel.“
    Ohne den Regenmantel auszuziehen, hielt Anna eine Schachtel hoch, die das prachtvolle Logo eines Delikatessengeschäfts in Princeton trug. Adeles Augen leuchteten, als sie den Inhalt sah. „Sachertorte!“ Anna reichte ihr einen Plastiklöffel, verziert mit einer blauen Schleife. Adele machte sich unverzüglich über die Torte her, sie schluckte einen riesigen Löffel voll.
    „Meine war besser. Aber Sie haben Talent. Sie verstehen es, mit alten Damen zu reden.“
    „Nur mit ehrlosen alten Damen.“
    „Zeigen Sie mir eine, die nicht ehrlos ist, und ich fresse auch noch die

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