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Die Göttin der kleinen Siege

Die Göttin der kleinen Siege

Titel: Die Göttin der kleinen Siege Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yannick Grannec
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Philosophie. Sie haben die Unentscheidbarkeit der Kontinuumshypothese bewiesen – ich erforsche ihre Bedeutung vom philosophischen Standpunkt aus.“
    „Sie entfernen sich von der reinen Logik?“
    „Nach meinem Dafürhalten muss man die Philosophie wie die Logik angehen – axiomatisch.“
    „Ich verstehe nicht, wie man Weltsichten axiomatisieren kann, die weder universell noch beständig sind.“
    „Ideen besitzen eine objektive Realität. Wir müssen eine nicht-subjektive Sprache ausarbeiten, die dieser Realität gerecht wird. Deshalb studiere ich seit Jahren die Phänomenologie Husserls und beschäftige mich mit deren spezieller Relevanz für die Mathematik.“
    Ich machte dem jungen Mann unauffällig ein Zeichen, aber er verstand meine Warnung nicht und reichte mir seine leere Tasse. Für zwei Stunden Phänomenologie würden wir noch mehr Tee brauchen! Kurts Wecker klingelte wie aufs Stichwort.
    „Entschuldigen Sie mich bitte, ich muss meine Medikamente einnehmen. Ich halte mich an einen sehr exakten Zeitplan. Ich ziehe mich kurz zurück.“
    Paul Cohen gab sich große Mühe, seine Verwirrung über den Inhalt des Gesprächs nicht zu zeigen.
    „Interessieren Sie sich für Phäni- … Phänomol- … Egal! Dieses Ding ist unaussprechlich.“
    „Und unverständlich. Ist Ihr Mann krank?“
    „Schenken Sie dem Ganzen keine Beachtung. Er hat seine kleinen pharmazeutischen Gewohnheiten. Sind Sie verheiratet?“
    „Seit Kurzem. Ich habe meine Frau letztes Jahr in Stockholm kennengelernt. Christina ist Schwedin.“
    „So schnell ging das?“
    „Das Glück wartet nicht!“
    Hatte dieser heitere Bub tatsächlich geschafft, was Kurt nicht gelungen war? Blue Hill erschien mir auf einmal so weit weg. Würde dieser nette junge Mann eines Tages zu seiner Christina sagen: „Ich habe Probleme“? Dieser respektvolle, enthusiastische Junge rührte mich an. Ich nahm ihn als ein undeutliches, jedoch körperlicheres Echo dessen wahr, was mein Mann einmal gewesen war. Neben Paul wirkte Kurt so hinfällig, so alt.
    Auch ich war überrascht gewesen, als Kurt mir diese Einladung angekündigt hatte. Uns besuchte sonst niemand mehr. Kurt mied jeden direkten Kontakt, auch mit unseren engsten Freunden. Allerdings verzichtete er nicht darauf, sie zu jeder Tages- und Nachtzeit anzurufen und sie in lange philosophische Diskussionen zu verwickeln. Er ging überhaupt nicht mehr in die Öffentlichkeit und machte für diesen brüsken Rückzug seine labile Gesundheit verantwortlich. Er hatte sogar eine Ehrenprofessur der Universität Wien und die Aufnahme in die Österreichische Akademie der Wissenschaften abgelehnt. Er hatte sich geweigert, als Sieger zurückzukehren. Wovor hatte er Angst? Dass man sich an diesem Persönchen vergriff? Dass man ihn in die Wehrmacht steckte? Diese Welt gab es nicht mehr. Zu seinem Unglück sah Kurt die Zeit nicht als einen dünnen Wasserstrahl, sondern als einen sumpfigen Pfuhl, alles darin war zermanscht und verdorben. Meiner Meinung nach war die Zeit eine zähflüssige Substanz voller Körnchen geworden, die normalerweise unverdaulich waren, eine Brühe, die man trotz seiner Übelkeit gezwungenermaßen schlucken musste: Kurts heißes Wasser am Morgen, die Tasse am Abend, das vernachlässigte Essen, das Schweigen. Die Rechnungen am Sonntag und die Zeitung, die er aufs Sofa legte, immer an dieselbe Stelle.
     
    „Ich bin ein wenig verwirrt. Ich habe erwartet, dass wir übers Geschäft sprechen.“
    „Die Philosophie ist kein Anhängsel der Mathematik. Ganz im Gegenteil, sie ist das substanzielle Mark.“
    „Ich glaube Ihnen aufs Wort, Doktor Gödel.“
    An unseren verstörten Besucher gewandt, zog ich eine unmissverständliche Grimasse: Diesem Dämon Husserl würden wir nun nicht mehr entkommen.
    „Die Phänomenologie ist vor allen Dingen eine Frage: Wie denkt sich der Gedanke selbst? Wie befreit man sich von allen Vorurteilen, die unsere Wahrnehmung beeinträchtigen? Wie erfassen wir das, was ist, nicht das, was wir glauben, es sei?“
    „Meine Frau nimmt Zeichenunterricht. Sie sagt oft zu mir: ‚Wie übertragen wir das, was wirklich vor uns ist, und nicht das, was wir wissen, dass es vor uns sei?‘“
    Ich verschränkte die Arme, um meine Ungeduld zu zügeln. Wenn der junge Mann mitspielen wollte, dann durfte er sich anschließend nicht beklagen!
    „Unser Gehirn übermittelt uns einen Teil der Wirklichkeit. Ein anderer Teil ist bereits von vornherein gespeichert. Wie bei einem faulen Maler, der

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