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Die Göttin der kleinen Siege

Die Göttin der kleinen Siege

Titel: Die Göttin der kleinen Siege Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yannick Grannec
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ein neues Motiv auf einen bereits bestehenden Hintergrund platziert.“
    „Doch wie kann man sich von vorgefassten Meinungen befreien, Doktor Gödel? Dazu bräuchte man einen unwahrscheinlich leistungsstarken Verstand!“
    „Husserl sagt: Wer wirklich Philosoph werden will, muss sich einmal in seinem Leben vollständig zurückziehen und versuchen, alles Wissen, das er bislang aufgenommen hat, wieder loszuwerden.“
    „Eine Art Trance?“
    „Husserl zieht den Begriff ‚Reduktion‘ vor.“
    „Das ist zu esoterisch für mich. Ich bin intuitiver.“
    Unser Gast hatte das verhängnisvolle Wort ausgesprochen. Mit neuer Energie setzte Kurt sich auf. Seit einigen Jahren reagierte seine Intuition nicht mehr so oft auf seine Rufe. Er konnte die Realität nicht mehr mit dem unverstellten Blick eines jungen Mannes erkennen, die Erfahrung war zu einem entstellenden Filter geworden und zwang ihn, seine bekannten Wege neu zu gehen. Dieser Schritt in die Phänomenologie gab ihm die Hoffnung auf eine neue Jungfräulichkeit seines Geistes, dem es an Anregungen mangelte. Musste er also alles, was er wusste, wieder vergessen, um weiterzukommen? Ich habe davon nie etwas begriffen, aber ich bin auch nie so weit gekommen. Er verstand meine Ironie nicht. „Setze dein Urteil aus, Adele. Du musst versuchen, deine Betrachtung der Welt zu verändern.“ Als hätte ausgerechnet ich es nötig gehabt, diese Welt zu fliehen!
    „Die Intuition als Weg ist eine zufällige Abkürzung, Mister Cohen. Es muss möglich sein, die Mechanismen des Denkens zu beweisen, um einen Punkt zu erreichen, den unsere träge Wahrnehmung uns aus Gewohnheit oder aus Zensur verwehrt.“
    Paul Cohen erging sich in der Betrachtung des Vorhangmusters. Er bereute es, dieses Fass aufgemacht zu haben und nun mit einem Schwall Betrachtungen kämpfen zu müssen, die weit entfernt waren von seinem vorrangigen Anliegen – den Ritterschlag des Großmeisters zu bekommen.
    „Der Geist kennt keine Grenzen, Mister Cohen. Nur seine Gewohnheiten sind begrenzt. Genauso wenig hat die Mathematik Grenzen. Nur jene, die ihre formalen Systeme festlegen.“
    „Das klingt so, als sei der Geist einfach ein Apparat, den man zerlegen, ölen und neu zusammenbauen muss.“
    „Verwechseln Sie mich nicht mit Turing. Der Geist ist nicht statisch, sondern in stetiger Entwicklung. Der Mensch ist keine Maschine.“
    „Wenn die Anzahl der Neuronen allerdings endlich ist, ist auch die Anzahl der möglichen Verbindungen unter ihnen endlich. Also gibt es doch eine Grenze.“
    „Ist der Geist denn ausschließlich eine Folge der Materie? Das ist ein materialistisches Vorurteil.“
    „Warum schreiben Sie keinen Artikel über dieses Thema?“
    „Um mich höflichem Gekicher auszusetzen? Der Zeitgeist ist noch immer gegen mich. Ich studiere lieber allein in meiner Ecke, auch wenn ich überzeugt bin, auf dem richtigen Weg zu sein.“
    „Verstecken Sie sich?“
    „Ich schütze mich. Ich habe nicht mehr die Kraft für Kontroversen. Da bin ich nicht der Erste und werde auch nicht der Letzte sein. Husserl fühlte sich auch unverstanden. Ich bin sicher, dass er nicht alles gesagt hat, um seinen Feinden kein Material zu liefern.“
    Ich lenkte meine Gereiztheit auf das Gebäck – diese Debatte kannte ich auswendig. Was hatte Kurt davon, in seinem Zimmer recht zu haben? Keine Kraft mehr für Kontroversen? Die hatte er nie gehabt. Ich unterbrach die beiden, denn im Fernsehen kamen nun Bilder, die man noch nicht gesehen hatte. Am frühen Nachmittag hatte die Polizei in einem Kino in Dallas einen Verdächtigen festgenommen, einen gewissen Lee Harvey Oswald. Er war wegen Mordes an einem Streifenpolizisten wenige Minuten nach dem Attentat auf den Präsidenten gesucht worden. An seiner Schuld bestand kein Zweifel.
    „Das ging ja fix. Hoffentlich machen Sie diesem Kerl da die Hölle heiß!“
    „Ist es nicht seltsam, dass man so schnell einen Schuldigen gefunden hat? Warum hat der Geheimdienst das Attentat nicht vorausgesehen?“
    Paul Cohen war wenig geneigt, sich in ein Gespräch über ein Komplott einzulassen. Er stand auf und verabschiedete sich.
    „Ich fühle mich sehr geehrt, dass Sie mich bei sich zu Hause empfangen haben. Darf ich fragen, ob Sie Zeit gehabt haben, meinen Artikel noch einmal zu lesen?“
    „Er ist in einem Umschlag neben der Tür. Wenn ich noch weitere Anmerkungen habe, rufe ich Sie an.“
    Als ich den Gast hinausbegleitet hatte, ging ich wieder ins Wohnzimmer, wo Kurt auf den

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