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Die Göttin der kleinen Siege

Die Göttin der kleinen Siege

Titel: Die Göttin der kleinen Siege Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yannick Grannec
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sind wir vor aufdringlichen Leuten sicher.“
    „Diese Einladung hat mich sehr überrascht. Als ich versucht habe, ihn im Institut zu sprechen, hat er meine Mappe genommen und mir die Tür vor der Nase zugeschlagen.“
    „Mein Mann ist ein bisschen ungesellig, aber er beißt nicht.“
    „Ich finde es großartig, dass ich mit Kurt Gödel Tee trinken darf!“
    „Interpretieren Sie nicht zu viel hinein, mein Junge.“
    Ich bat ihn ins Wohnzimmer, damit ich ein Auge auf den Fernseher haben konnte. Cohen besah sich die Einrichtung – die geblümten Vorhänge und das geblümte Sofa verblüfften ihn. Was hatte er erwartet? Eine Höhle? Kurt ließ sich gern bitten, also musste ich mit Mister Cohen ein bisschen Konversation betreiben. Das strengte mich nicht an, ich freute mich ja so, junge Leute im Haus zu haben.
    „Mein Mann hat mir gesagt, dass ein junger Wissenschaftler sein Problem mit der Kontinuumshypothese gelöst hat.“
    „Hat er gesagt: ‚sein‘ Problem?“
    Ich tat so, als würde gerade eine neue Nachricht ausgestrahlt werden, und stellte den Fernseher wieder laut. Alle meine gewohnten Sendungen waren von einer Flut immergleicher Nachrichten ersetzt worden. Schnell kam ich zurück und fragte unseren Besucher nach seiner Herkunft. Er kam aus New Jersey, seine Eltern aber waren vor dem Krieg aus Polen eingewandert.
    „Du belästigst Mister Cohen mit deinem Polizeiverhör, Adele.“
    Ganz eingeschüchtert stand Paul auf und begrüßte Kurt. Ich überließ die beiden schnell ihrer geteilten Verlegenheit.
    „Ich mache Tee. Wollt ihr auch Gebäck?“
    „Wie du willst.“
    Ich ging in die Küche, ich konnte meine Verärgerung nur mit viel Mühe zurückhalten. Diesen Satz konnte ich nicht mehr hören! Sein „Wie du willst“ war kein Zeichen von Zuneigung oder Einfühlsamkeit, sondern des Verzichts auf jede Lust.
    Ich hatte so viele Jahre meine eigenen Bedürfnisse zurückgestellt, um den Anschein einer ausgeglichenen Ehe aufrechtzuerhalten. Wen willst du treffen? Was willst du essen? Was würde dir Freude machen? – „Wie du willst.“ Ich wollte gar nichts mehr. Meine Ausdauer war aufgebraucht, auch ich lebte nur mehr die Leere.
    Über den Wasserkessel hinweg sah ich durchs Fenster in den Garten, der kahl und trist war. Ich erinnerte mich nicht mehr, wie ich vom Glück in die Selbstaufgabe abgerutscht war. Das Grau hatte sich in mir ausgebreitet. Es hatte meine Muskeln und mein Talent zum Frohsinn erstarren lassen. 1959 war meine Mutter gestorben, sie liegt auf dem Friedhof von Princeton, unweit unseres Hauses. Die Parzelle daneben haben wir schon reserviert. Im Frühjahr waren Marianne und Rudolf wieder zu Besuch gekommen, sie kamen nun alle zwei Jahre. Nichts war berechenbarer als ein Gödel. Im Juni hatte ich Kurt ans Meer schleppen können, aber wir sind schnell wieder abgereist – zu viele Leute, zu kalt. In diesem Sommer war ich in Kanada, die Jahre zuvor in Italien gewesen. Als ich zurückgekommen war, hatten wir ganz allein unsere Silberhochzeit gefeiert. Marianne hatte sich nicht einmal die Unkosten gemacht, ein Glückwunschtelegramm zu schicken. Ich hatte damit gerechnet, Kurt aber hatte es zugesetzt. Fünfundzwanzig Jahre Ehe, zehn Jahre Heimlichkeit – eine Ewigkeit. Leinwandhochzeit.
    Am Morgen hatte ich in Erwartung des Besuchs versucht, dieses fremde Gesicht zu schminken. Diese Hängebacken, diese Falten – war das wirklich mein Körper? Der Eyeliner hielt nicht mehr auf meinen runzligen Lidern. Es war an der Zeit, auf Make-up zu verzichten. Ich war eine fette Matrone geworden. Nur mein Feuermal war mir geblieben. Ich schrieb Listen, was ich zu erledigen hatte, damit ich nicht den Boden unter den Füßen verlor. Ich gärtnerte, stickte, räumte die Einsiedlerkate auf. Kurt hatte sich in seinem Arbeitszimmer nicht mehr wohlgefühlt, also hatte ich mein Schlafzimmer, das heller war, mit seinem Büro getauscht. Ich hatte einen wunderschönen verglasten Bücherschrank einbauen lassen und war froh gewesen, dass ich eine Aufgabe hatte. Mein Sessel am Küchenfenster, mein kleiner Zoo, meine Familie – das war meine Heimat. Penny war im vergangenen Frühjahr gestorben, ich hatte es nicht über mich gebracht, sie durch einen anderen Hund zu ersetzen. Ich hatte ein unzertrennliches Vogelpärchen und zwei herrenlose Katzen aufgenommen. Den dicken roten Kater hatte ich „Gott“ getauft. Er flüchtete auf Schränke oder verschwand tagelang, ohne sich blicken zu lassen.
    Warum sagt man, nur die

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