Die Göttin der kleinen Siege
einfachen Geister wären glücklich? Die kleine Tänzerin war es nicht. Gestern Abend war ich einkaufen gewesen – mein großer wöchentlicher Ausgang. Ich war vor einem etwa zehnjährigen Mädchen stehen geblieben, das seine neuen Schuhe bewunderte. Seine Mutter war aus einem Geschäft gekommen und hatte ihm kühl befohlen, ihr zu folgen. „Deine Haltung, Anna!“ Nach der kalten Dusche hatte das Mädchen mit unendlicher Traurigkeit den Kopf gehoben und die Schultern verkrampft. All seine Freude hatte sich unter diesem Befehl aufgelöst. Ich wäre gern hinter dem Kind hergelaufen und hätte es in den Arm genommen. „Lass dich nicht unterkriegen, meine Kleine. Lass dich nie unterkriegen!“ Ich hatte meine Einkaufstasche nach Hause geschleppt. Ich sah zu, wie die Kinder der anderen groß wurden.
Mit dem Tablett kam ich wieder ins Wohnzimmer – zwei Tassen Tee und eine Tasse heißes Wasser. Ich sah, wie mein Mann ein Stück Zucker zerbrach und dann das kleinste Stück auswählte. Seit fünfunddreißig Jahren sah ich, wie er seine Zuckerdosis hinterfragte. Was wäre geschehen, wenn ich ihm mit Gewalt das größte Stück in die Tasse gegeben hätte? Wäre die Welt zusammengebrochen?
„Stört es, wenn ich hierbleibe? Vielleicht kommen ja doch noch neue Nachrichten im Fernsehen.“
„Wie du willst.“
Ganz ehrlich, ich sehnte mich nach ein bisschen Gesellschaft. Dass ich aufdringlich erscheinen musste, kümmerte mich wenig. Unseren Ruf hatten wir in Princeton ohnehin weg: der Verrückte und seine Megäre.
Unser Besucher hielt sich an seiner Teetasse fest. Er wusste nicht, wie er das Gespräch beginnen sollte, und entschied sich für Schmeicheleien. Mit Nachdruck dankte er Kurt für die Hilfe, die dieser ihm bei der Überarbeitung seiner Veröffentlichung gewährte. Im gegebenen Fall ließ Kurts Pflichtbewusstsein ihm kaum eine Wahl. Cohen hatte dort, wo mein Mann zwanzig Jahre zuvor gescheitert war, einen beträchtlichen Schritt gemacht. Kurt hatte mir die Nachricht übermittelt, als er die Post durchgegangen war. „Ein gewisser Paul Cohen hat gerade bewiesen, dass die Kontinuumshypothese unentscheidbar ist. Hast du daran gedacht, Milch zu kaufen?“ Ich hatte mich gehütet, darauf zu reagieren. Ich fürchtete die Panikattacke, die unvermeidlich darauf folgen würde. Wie sollte er es verkraften, so knapp überholt worden zu sein, nachdem er seinen früheren Beweis gar nicht veröffentlicht hat? Er hatte sich damals mit seiner Angst vor Verleumdern gerechtfertigt. Ich wusste, dass sein Perfektionismus ein sehr viel kompromissloserer Zensor war. Dennoch war Kurt laut seinen Kollegen Gottvater für die jungen Logiker. Die Wissenschaft ist eine Übung in erzwungener Demut: Er musste zugeben, dass er nur ein bescheidenes Glied in der Kette war – vor ihm kam Cantor, nach ihm Cohen. Wie fühlte er sich vor einem neuen Selbst? Stand er über dem Neid, über der Eifersucht? Gestattete ihm seine Größe so etwas wie Groll? Denn es war eine Abdankung. Er hatte dieses Kind zwei Jahrzehnte lang ausgetragen, nun aber würde ein anderer Anspruch auf die Vaterschaft erheben. Welches Schicksal wäre dem Jungen beschieden, der es wagte, nach dem Licht zu streben? Würde er es mit seiner Lebenslust bezahlen wie seine Vorgänger?
„Diese Arbeit wird Ihnen die Fields-Medaille einbringen, Mister Cohen.“ 45
„Sie schmeicheln mir sehr. Kein Logiker hat sie je bekommen. Nicht einmal Sie!“
„Ehren blieben mir immer versagt.“
Ich verdrehte die Augen. Wem wollte Kurt das denn weismachen? Abgesehen von der Fields-Medaille hatte er alle Ehrungen bekommen, auf die ein Mathematiker überhaupt hoffen kann.
„Welchem Gegenstand werden Sie sich widmen, nachdem Sie diesen hohen Berg bezwungen haben?“
„Ich habe ausreichend zu tun. Ich habe das Glück, in Stanford eine feste Stelle zu bekleiden. Ich liebe die Lehre! Und dann will ich mich an die Riemannsche Vermutung machen!“ 46
„Sie sind sehr optimistisch, mein Junge. Das Kontinuumsproblem ist aber noch nicht vollständig gelöst. Seine Unentscheidbarkeit beweist lediglich, dass unsere Instrumente noch nicht scharf genug sind. Es ist noch alles offen.“
„Halten Sie noch immer an Ihrer Aussage der fehlenden Axiome fest?“
„Ihre eigentliche Arbeit als Logiker beginnt erst. Sie müssen das Gebäude konsolidieren.“
„Ist es denn nicht auch das Ihre? Woran arbeiten Sie zurzeit, Mister Gödel?“
„Ich mache daraus kein Geheimnis, ich widme mich der
Weitere Kostenlose Bücher