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Die Göttin der kleinen Siege

Die Göttin der kleinen Siege

Titel: Die Göttin der kleinen Siege Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yannick Grannec
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er nicht leben. Er musterte Anna mit diesem erstaunten Gesichtsausdruck, den sie nur zu gut kannte – als würde er jedes Mal mit einiger Verspätung feststellen, wie groß sie geworden war.
    „Du siehst nicht gut aus, meine Tochter.“
    Sie öffnete das Fenster. Er hatte nicht diesen ganzen Weg auf sich genommen, um sich mit ihr über ihr Wohlbefinden zu unterhalten. Er zündete eine Zigarette an, während er einen Aktenstapel durchblätterte, der ordentlich auf dem Couchtisch lag. Anna hatte ihn aus dem Institut mitgenommen, damit sie während ihrer schlaflosen Nächte etwas zu tun hätte und ihren Rückstand aufholen könnte.
    „Ich war nicht immer ein sehr fürsorglicher Vater. Aber ich war in deinen schwierigen Momenten für dich da. Das kannst du nicht abstreiten.“
    Anna versteifte sich, sie kannte seine Art, sich vor heiklen Nachrichten reinzuwaschen: Sprich nicht von meinen Schwächen, ohne deine eigenen zu bedenken.
    „Carolyne ist schwanger.“
    Seit Monaten hatte Anna schon mit dieser Neuigkeit gerechnet, sie zwang sich dazu, sich unbeirrt zu geben.
    „Rachel habe ich es noch nicht gesagt.“
    „Bist du gekommen, um meinen Segen zu erbitten oder meine Verschwiegenheit?“
    Er suchte etwas, wo er seine Asche abstreifen konnte. Entschlossen reichte Anna ihm eine Untertasse.
    „Ich hatte gehofft, dass du dich mit mir freuen würdest. Ich bin dir keine Rechenschaft schuldig, Anna.“
    „Also, warum bist du hier? Hast du Schuldgefühle bekommen?“
    „Reize mich nicht mit diesen Psychospielchen. Ich bin dir in diesem Thema eine Ehe voraus. Du wirst genauso nervtötend wie Rachel.“
    Er stand auf und nahm seine Aktentasche – die Kunst der Flucht war ein erbliches Talent bei den Roths. Dennoch konnte er nicht zugeben, dass sie sich ähnelten, weniger noch, dass Anna eine eigene Persönlichkeit hatte. Sie war eben die Tochter ihrer Mutter.
    „Vielleicht habe ich dich zu jung gehabt, Anna.“
    „Versuche, es bei deinem neuen Spielzeug besser zu machen.“
    Er stapelte die Akten wieder so ordentlich zusammen, wie er sie vorgefunden hatte, und fixierte seine Tochter ohne jede Milde. Sie zog ihren Bademantel enger und bereute schon, was sie gesagt hatte. Sie hatte ihm recht gegeben: Sie klang wie ihre Mutter.
    „Findest du, dass du mehr verdient hast? Dann musst du dich an deiner eigenen Nase fassen. Deine Frustration, das ist nur Dünkel.“
    Er ging zur Tür. Im Vorbeigehen strich er ihr über die Wange und legte einen Umschlag mit Geld auf die Konsole. „Für Weihnachten.“ Als die Tür hinter ihm geschlossen war, zählte sie die Scheine – damit könnte sie sich zwanzig solcher nuttigen, unsinnigen Thanksgiving-Kleider kaufen!

48.
22. November 1963
Langeweile ist ein tödliches Gift
    „Sofern man alt wird –
Selbst die Länge des Tages
Ist Tränenquelle.“
Kobayashi Issa
     
     
    Ich blickte auf meine Armbanduhr: 17 Uhr 30. Unser Besucher war so präzise wie ein Logiker. Ich tupfte meine feuchten Lider ab, bevor ich einem großen, hageren Mann mit langer, schiefer Nase, engstehenden dunklen Augen und einer schönen, frühen Glatze öffnete. Er gefiel mir auf Anhieb. Sein schmales Lächeln war herzlich, sein Blick sympathisch. Er trug einen makellosen Anzug. Kurt würden seine Pünktlichkeit und seine ordentliche Kleidung gefallen. Eifrig trat er sich die Schuhe auf der Matte ab und reichte mir eine kleine Schachtel Pralinen.
    „Guten Tag, Missis Gödel, ich bin Paul Cohen. Ich bin mit Ihrem Mann verabredet. Aber ich weiß nicht, ob es heute passt.“
    „Seien Sie willkommen. Nachdem Sie da sind, muss ich nicht mehr vor diesem dummen Fernseher heulen.“
    „Gibt es etwas Neues? Ich war heute Nachmittag mit der Bahn unterwegs.“
    „Er ist auf dem Weg ins Krankenhaus gestorben. Sein Leichnam wurde mit einem Militärflugzeug überführt.“
    „In den Straßen sieht es fast aus wie bei einer Ausgangssperre. Alles ist zum Stillstand gekommen.“
    „Ich bin bestürzt. Wenn man einen Präsidenten töten kann, kann alles passieren.“
    „Johnson wird heute noch eine Ansprache halten. Die Stabilität des Landes ist nicht gefährdet.“
    „Kennedy ist unersetzlich. Wenn ich an die arme Jackie denke … Und die Kinder!“
    Ich nahm ihm seine Sachen ab.
    „Ich hatte Angst, zu spät zu kommen. Ich hatte eine falsche Adresse.“
    „Sie hat sich 1960 geändert. Das Viertel wird weiter erschlossen. Wir haben unsere Nummer 129 gegen die 145 getauscht. Kurt wollte es nicht bekannt machen – so

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